Angelglass (German Edition)
Korridor erreichen. In einem der Alkoven befindet sich eine steinerne Wendeltreppe. »Hier hinauf«, sagt Lang, betritt die Treppe und nimmt drei Stufen auf einmal.
Der Treppenaufgang ist düster. Lang ist für mich in seiner dunklen Kleidung und seinem schwarzen Mantel völlig unsichtbar. Nicht einmal ein erschöpftes Stöhnen ist zu hören. Wenn seine Stimme erklingt, hallt sie, so als wäre sie überall, von den Wänden wider. Das macht es unmöglich, seine genaue Position zu bestimmen, obwohl ich weiß, dass er mir nur ein paar Meter vorausgeht.
»Seid Ihr ein Jude, junger Mann?«
Die Frage überrascht mich. Ich erinnere mich an Sir Anthonys mahnende Worte und nehme mich zusammen, bevor ich antworte. »Ich bin ein Findling, Kammerherr. Tatsächlich weiß ich nicht, was ich bin.«
»Hmm. Ihr habt das Aussehen eines Juden … mit dem schwarzen Haar und den feinen Zügen. Ihr seid doch nicht etwa ein Laufbursche für den verfluchten Rabbi aus dem Getto, oder?«
»Ich kenne keinen Rabbi, Kammerherr.« Ich fühle mich in dieser Dunkelheit entmutigt und weiß nicht genau, wo sich Lang befindet. Ich warte darauf, dass mich das Echo seiner Stimme wieder erreicht, doch es herrscht Stille. In einiger Entfernung über mir höre ich, wie seine Füße über die Stufen schlurfen. Ich laufe schneller, um ihn einzuholen.
Nach und nach wird es heller im Treppenaufgang, und schließlich führt mich Lang hinaus in ein Turmzimmer, das einen staunenswerten Ausblick auf Prag bietet. Die Stadt unter uns bewegt sich wie ein lebendiges Wesen. Ähnlich sich bewegender Haarlocken, windet sich der Rauch fortwährend an den Dächern empor. Die Moldau glänzt kalt unter der sinkenden Sonne. Ich trete an das glaslose Fenster und sauge das atemberaubende Panorama in mich auf.
»Wunderschön«, flüstere ich.
Lang spuckt aus. »Eine Jauchegrube.«
Er stellt sich neben mich und deutet auf die Straße, über die ich mit Sir Anthony und Percy zum Schloss hinaufgeritten bin. »Die Zámecké Straße. Dort betreiben die verfluchten Huren ihr Gewerbe, und die Scharlatane betrügen jeden, der dumm genug ist, auch nur zweimal in ihre Richtung zu sehen.«
Dann zeigt er in Richtung Osten. »Und da leben die Juden in Elend und Dreck und praktizieren ihre gottlosen Künste.«
Mein Blick folgt seinem ausgestreckten Arm bis zu den Türmen der Teynkirche, die sich über den größten Platz der Stadt erheben. »Hier gibt es nur Gesindel, das säuft und kämpft und stiehlt und hurt. Prag ist das faulende Geschwür Böhmens, junger Mann.
Doch hier im Schloss herrschen Freude, Reinheit, Anstand. Und Ordnung. Und als Kammerherr Seiner Exzellenz Rudolf II ., Kaiser der Habsburgischen Monarchie …« Plötzlich spüre ich, wie er seine Hand auf meinen Rücken legt und mich nach vorne stößt, sodass mein Bauch gegen den Fenstersims gedrückt und mir die Luft aus dem Brustkorb gepresst wird, während gleichzeitig die Landschaft in einem schwindelerregenden Winkel auf mich zuzurasen scheint, »… werde ich niemandem erlauben, diese Ordnung zu zerstören.«
Mein Oberkörper ist jetzt weit aus dem Fenster gelehnt; der Schlosshof unter uns wirkt meilenweit entfernt. »Aber … Kammerherr …«
Lang hält seinen Kopf dicht neben meinen. »Für wen spioniert Ihr, junger Mann?«, zischt er mir ins Ohr.
Ich kann nur den Kopf schütteln, meine Augen sind vor Angst weit aufgerissen.
»Ist es Elisabeth? Sir Anthonys arabische Geldgeber? Rudolfs Familie in Wien? Rabbi Löw und seine Juden aus dem Getto? Wer ist es?«
»Kammerherr!«, bringe ich mühsam hervor. »Ich schwöre, ich spioniere für niemanden. Ich wurde …«
»In einem Graben gefunden«, seufzt Lang, lockert seinen Griff und erlaubt mir, mich vom Fenstersims zurückzuziehen. »Ja, ich weiß. Nun kommt, ich möchte Euch jemandem vorstellen, bevor Ihr den Kaiser trefft.«
Während ich noch voller Panik meinen Hals befühle, schreitet Lang über den steinernen Boden des Turmzimmers und bleibt dann vor einer Tür an der Nordseite stehen. »Kommt, junger Mann.«
Ein Mann mit einer goldenen Nase betrachtet mich aufmerksam durch ein Vergrößerungsglas. Seine ungleichmäßige Gestalt wirkt hinter dem Glas zu grotesken Proportionen verzerrt. Lang inspiziert lustlos eine Apparatur aus Glasröhren, die ein paar von Qualm und blubbernder Flüssigkeit erfüllte Gefäße miteinander verbinden. Armillarsphären und glänzend polierte Sternhöhenmesser liegen neben Gestellen, goldenen Sextanten und matt
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