Angelglass (German Edition)
heißt, meine Mutter, Maria, sei verrückt, genauso wie ihr Bruder, Philipp von Spanien, und ebenso mein Bruder Albrecht.«
Rudolf sieht mich ruhig an. »Und ich bin sicher, dass du gehört hast, was sie über mich sagen, ob du nun aus einem Graben kommst oder nicht.«
Nichts darauf zu antworten, erscheint mir die weiseste Reaktion.
»Nur mein Vater hat mich verstanden«, sagt Rudolf. »Nur er teilte meine Gier nach Wissen. Meine Familie vergeudet ihre Zeit auf den frivolen Wiener Hofbällen, rauft sich die Haare, wenn wieder mal die Türken eingefallen sind, und sucht ihr Seelenheil beim verfluchten Papst. Sie nennen mich einen Narren oder Schlimmeres noch, weil ich Mystiker und Alchemisten unterstütze. Sie verstehen meine Suche nach der Wahrheit nicht. Deshalb bin ich mit meinem Hof aus Wien geflohen. Um ihnen und ihrem seichten Leben zu entkommen. Und um hier zu sein, in Prag.
Kannst du es nicht spüren, Junge? Diese Magie? Ich glaube, in dieser Stadt kreuzen sich viele Dinge. Ich glaube, die Moldau spült mehr als nur Fisch und Treibgut ans Ufer. Genau hier werde ich die Mysterien des Universums aufdecken. Und dann werde ich mehr sein als nur der Herrscher des Heiligen Römischen Reichs. Ich werde die Wahrheit beherrschen, Junge!«
Rudolf fällt erschöpft auf seinen Stuhl zurück und betrachtet wieder sein Weinglas.
»Aber die Mysterien bleiben mir versagt, Findling. Meinen Alchemisten gelingt es nicht, Blei in Gold zu wandeln. Ich will Antworten, doch meine Orakel werfen nur immer neue Fragen auf. Wie kann das sein?«
Ich bleibe weiter still. Rudolf sieht mich für einen Moment neugierig an. Dann scheinen seine Augen plötzlich von innen heraus zu leuchten.
»Natürlich, Findling. Du. Du bist mir nicht umsonst geschickt worden. Du bist der Schlüssel, der die Mysterien enthüllt. Prag ist eine magische Stadt, wenn auch die Magie nicht ohne Weiteres sichtbar ist. Wie ein Trugbild oder ein Regenbogen entzieht sie sich bei zu naher Betrachtung. Du wirst mir die Herrlichkeit Prags widerspiegeln, durch dich werde ich sehen, was entdeckt werden muss. Du wirst der Spiegel sein, Findling, der Spiegel von Prag. In deinen Augen wird sich alles offenbaren!«
Triumphierend knallt Rudolf seine Faust auf den Tisch. »Der Spiegel von Prag!«, wiederholt er, richtet den Blick auf die in den Dachsparren verborgenen Dinge außerhalb meines Gesichtsfelds und bewegt die Lippen zu einem unhörbaren Gesang irgendwo in seinem Kopf.
Über eine Stunde sitzen wir so am Tisch, bis schließlich Lang auftaucht und mich stirnrunzelnd ansieht.
»Seine Exzellenz muss jetzt ruhen«, sagt er und gibt den Dienern ein Zeichen, Rudolf in seine Schlafgemächer zu führen. »Ich schlage vor, dass auch Ihr Euch etwas ausruht, Findling. Der Kaiser hat offenbar große Pläne mit Euch.«
Intermezzo 1
Auf einer weiten und endlosen Ebene aus Weiß steht eine fantastische silberne Zitadelle, in der Wesen von großer Schönheit, Weisheit und Güte wohnen. Die Stadt ist ein Paradoxon; sie ist endlos und dennoch an allen Punkten von einem dunklen, schwarzen Nichts begrenzt. Die Zitadelle ist genauso breit wie hoch, ihre Grundmauern reichen so tief in die Erde wie die Tore der Süd- und der Nordwand voneinander entfernt sind. Die Stadt hat einen Namen, denn alle Dinge haben einen Namen, und so auch ihre leuchtenden Bewohner.
Ein Turm, hoch über der glänzend silbernen Stadt. Zwei Wesen, anscheinend aus Licht geboren, bewegen sich wie in einem Tanz auf den Rand eines Balkons zu, der ein Panorama auf die Ewigkeit freigibt. Die beiden sehen sich zum Verwechseln ähnlich, bis auf die Aura aus Macht und Autorität, die der eine ausstrahlt, und die Träume, die wie quecksilberne Schmetterlinge um das Haupt des anderen schwirren.
Der Erste spricht mit einer Stimme, die Sterne erschüttern und dennoch ein Baby in den Schlaf wiegen könnte. »Ich habe gehört, dass von … Kommunikation die Rede war. Stimmt das?«
Die Traumfliegen wirbeln umher, der Bewohner der glänzenden Türme blickt auf die breiten Straßen aus Licht hinunter. »Nein. Kommunikation ist verboten. Wir beide wissen das.«
Der Erste rafft sein Licht wie einen Mantel fester um sich. »Das wissen wir in der Tat. Ich habe jetzt im Hause zu tun und muss gehen.«
Der von Luft und Helligkeit erfüllte Geist tritt vom Balkon hinunter, die dünne Luft erzittert wie der trockene Atem einer Wüste, nur erschreckt vom Flügelschlag des Kolibris. Er dreht sein Tausende von Sonnen spiegelndes
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