Angelglass (German Edition)
meinst, mit Superhelden? Nur die besten.« Petey nimmt eines der Hefte in die Hand und blättert es durch. »Sie sind so was wie die Mythologie unserer modernen Zeit, Poutnik. Märchen für das 21. Jahrhundert. Legenden für eine von Reality- TV besessene Welt.«
Er reicht mir eins der Magazine. »Sieh mal das hier. Superman. Der Großvater aller Comic-Helden. Der Letzte eines sterbenden Planeten; auf die Erde gesandt, um uns zu retten. Mann, das hat definitiv biblische Ausmaße! Und dann Batman … der Geist der Rache. Er hat seine Menschlichkeit verloren. Ein verängstigtes Kind, gefangen im Körper einer Killer-Maschine.«
Petey zündet den Joint an und nimmt einen tiefen Zug. »Das sind die Geschichten, die unser Zeitalter definieren, Pooty. Wir sitzen nicht mehr ums Höhlenfeuer herum und erzählen uns Geschichten über den Wind oder den Mond. Wir haben Straßenbeleuchtung und Navigationssysteme und MySpace und Tablet-Computer und rund um die Uhr geöffnete Einkaufszentren. Aber wir brauchen immer noch unsere Legenden. Wir brauchen immer noch Helden. Und weißt du auch, warum?«
Ich nehme den Joint und schüttele den Kopf.
»Weil wir nicht mehr menschlich sein wollen. Das haben wir bereits hinter uns. Wir wollen die nächste Stufe erreichen. Wir wollen fliegen und mit unseren Augen Laserstrahlen abschießen und große Gebäude mit einer Hand in die Luft heben. Wir verpassen uns Piercings und Tattoos und Brandings, um uns über den menschlichen Zustand zu erheben. Wir wollen unser Fleisch transzendieren und unseren rechtmäßigen Platz neben den Göttern einnehmen, Mann. Und genau dazu verhelfen uns die Comics. Sie sind wie eine Gebrauchsanweisung für die Zukunft.«
Noch nie habe ich Petey so aufgekratzt erlebt. Er kramt in einem Stapel Hefte herum, zieht einen Comic heraus und reicht ihn mir. »Sieh dir das mal an. Green Lantern. Ein ganz normaler Typ, der von einer höheren Macht dazu auserwählt wird, das Weltall zu verteidigen. Ein Mitglied der Schutzgarde, die den Himmel bewacht. Und weißt du, was sie eigentlich sind? Engel, Mann. Sie sind Engel.«
Er lässt sich zurückfallen und betrachtet die Spitze seines Joints, der langsam zu Asche verbrennt. Plötzlich scheint er meine Anwesenheit gar nicht mehr wahrzunehmen. Ich werfe noch einen Blick auf das Heft, lege es zurück und stehe auf. »Engel, Mann. Sie sind Engel«, murmelt Petey in sich hinein, während ich langsam aus dem Zimmer gehe.
Kapitel 6 Der König der Löwen
»Wo zum Teufel ist der Spiegel von Prag?«, brüllt Rudolf. Die Diener, die ihn anzukleiden versuchen, weichen erschrocken vor seinem speicheldurchsetzten Wutanfall zurück. »Bringt mir den Spiegel von Prag!«
Lang steht im ewig währenden Staub des Thronsaals, als Rudolf die Hermelinrobe abwirft, die seine Diener ihm zaghaft auf die breiten Schultern zu legen versuchen. Der Kammerherr ist verwirrt. »Der Spiegel von Prag, Eure Exzellenz …?«, sagt er zögernd, gerade als ich in den Raum stürze und noch die letzten Knöpfe meines Wamses schließe.
»Da ist er ja!«, ruft Rudolf.
Lang sieht mich fragend an. »Was tut Ihr hier, junger Mann? Der Kaiser gewährt Sir Anthony eine Audienz«, zischt er.
»Das ist der Spiegel von Prag, du Narr!«, brüllt Rudolf Lang an. »Der Findling ist meine Wahrsagekugel, durch die sich die Mysterien des Lebens offenbaren. Ich habe angeordnet, dass er mich bei allen offiziellen Anlässen begleitet.«
Lang schürzt die Lippen. »Sehr wohl, Eure Exzellenz. Ich werde Sir Anthony herbeirufen.«
Er wendet sich um und beugt sich zu mir. »Ihr und ich, wir werden uns später unterhalten, Freund Poutnik«, flüstert er und schleicht sich aus dem großen Saal hinaus.
Rudolf gestattet seinen Dienern, ihn fertig anzukleiden. »Ich werde natürlich auf dem Thron Platz nehmen«, sagt er. »Der Findling soll zu meiner Rechten … nein, zu meiner Linken auf dem Boden sitzen, und Sir Anthony und seine Männer werden vor mir stehen. Klingt das angemessen?«
Ich blicke umher, aber die Diener arbeiten stumm weiter, nehmen winzige und kaum wahrnehmbare Änderungen an Rudolfs extravagantem Aufzug vor.
»Natürlich ist es angemessen«, sagt er zu sich selbst. Ohne Vorwarnung verpasst er einem seiner Diener eine Ohrfeige. »Fort jetzt! Fort! Ich muss mich auf die Audienz vorbereiten.«
Die Diener verbeugen sich tief und huschen aus dem Saal. Rudolf inspiziert die Robe, die ihm angelegt wurde. »Dieser närrische Jude hat alles falsch gemacht«, seufzt er.
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