Angelglass (German Edition)
sein, die Prophezeiung zu erfüllen? Schnell laufe ich in die Küche, um sie zu suchen.
Bis zum Anbruch der Nacht habe ich Hannah nicht gefunden. Doch jetzt darf ich mich zu meiner Verabredung mit Rudolf nicht verspäten. Ich eile zum Thronsaal, wo Arcimboldo den Kaiser für eine Porträtsitzung erwartet, und treffe den Künstler an der Tür an.
»Eine Änderung im Programm, Meister Arcimboldo«, sage ich atemlos. »Der Kaiser fühlt sich nicht wohl.«
Der Maler lässt seinen Pinsel fallen und verdreht die Augen. »Wie viele Unannehmlichkeiten muss ich noch ertragen?«, jammert er. »Ich habe bereits zwei Dutzend Kerzen aufgestellt, weil der Kaiser eine nächtliche Sitzung wünschte. Und jetzt hat er also seine Meinung geändert?«
»Er fühlt sich nicht wohl, Meister Arcimboldo«, sage ich mitfühlend.
»Das ist einfach zu viel«, grummelt der Maler. »Ich werde dem Kammerherrn sagen, was ich davon halte.«
»Ah, nein, das würde ich besser lassen«, sage ich schnell. »Der Kaiser …« Fieberhaft suche ich nach einer Entschuldigung, die den Künstler beschwichtigen könnte. »Der Kaiser hat eine Frau bei sich«, flüstere ich in vertraulichem Tonfall. »Das möchte er dem Kammerherrn lieber nicht verraten.«
Arcimboldo runzelt die Stirn. »Ah«, sagt er und klopft sich mit dem Finger an die Nase. »Ich verstehe. Nun gut, Meister Poutnik. Bitte richtet dem Kaiser aus, dass wir uns vielleicht morgen wieder zusammensetzen können.«
Arcimboldo sammelt seine Gerätschaften ein und stapft durch den Korridor. Erleichtert atme ich auf. Als er verschwunden ist, schlüpfe ich in den Saal, wo Rudolf auf seinem Thron hockt. Das glitzernde Licht von Arcimboldos Kerzen lässt groteske Schatten durch den Raum tanzen.
»Spiegel von Prag? Ist der Künstler gegangen?«
»Ja, Exzellenz.«
»Gut. Komm, setz dich zu mir, während wir auf den Rabbi warten.«
Nervös setze ich mich auf einen Schemel neben dem Thron und bete, dass der Rabbi sein Wort hält. »Wie wird denn der Rabbi ins Schloss kommen, wenn sein Erscheinen so geheim ist?«, frage ich besorgt.
»Mittel und Wege, hmm?«, sagt eine krächzende Stimme. Rabbi Löw tritt aus den Schatten hervor; das Kerzenlicht spiegelt sich in seinen Augen. »Mittel und Wege.«
Der Rabbi verbeugt sich vor dem Thron. Rudolf scheint von seinem plötzlichen Erscheinen völlig unbeeindruckt zu sein. »Guten Abend, Rabbi Löw«, sagt er. »Ich danke Euch für Euer Kommen.«
»Eure Einladung hat mich sehr geehrt«, erwidert Löw und hinkt auf den Thron zu. »Wie hätte ich da widerstehen können?«
Rudolf bittet mich, dem Rabbi einen Stuhl zu bringen. Mit einem tiefen Seufzer nimmt er Platz. »Nicht mehr so jung wie ich mal war, hmm?«, sagt er lächelnd.
»Wer ist das schon?«, erwidert Rudolf traurig. Auf einem Tisch in der Nähe haben ein paar Diener schon Wein bereitgestellt. »Möchtet Ihr etwas trinken?«
Ich hole Gläser für Rudolf und den Rabbi. »Stört es Euch, wenn Meister Poutnik unserem Treffen beiwohnt?«, fragt Rudolf.
»Keineswegs«, antwortet der Rabbi. »Ein faszinierender junger Mann.«
Eine kleine Pause entsteht, als sie beide den Wein kosten und einander mustern. »Vermutlich fragt Ihr Euch, weswe-gen ich Euch hergebeten habe?«, sagt Rudolf nach einer Weile.
Löw antwortet mit einer Handbewegung. »Vielleicht möchte der Kaiser darüber sprechen, wie die Bedingungen der Menschen im Getto verbessert werden können, hmm?«
Rudolf wechselt die Sitzposition. »Das ist vielleicht etwas, worüber wir zu einem späteren Zeitpunkt reden können. Selbstverständlich liegt mir am Wohlergehen all meiner Untertanen.«
Der Rabbi nickt, erwidert aber nichts. Rudolf nimmt noch einen Schluck Wein. »Ich möchte, dass Ihr mir Wissen vermittelt, Rabbi. Wissen über die Kabbala.«
Löw verschränkt die Finger und denkt einen Augenblick nach. »Die Kabbala. Die geheime Lehre der Hebräer. Aber möchte der Kaiser nicht vielleicht mehr über die Menschen im Getto wissen? Sodass er ihre Lebensbedingungen verbessern kann?«
Rudolf fühlt sich bedrängt und lächelt. »Nun gut, Rabbi. Lasst uns heute Nacht über die Kabbala reden, und später erörtern wir die Lage im Getto. Klingt das nicht nach einem fairen Handel?«
Löw scheint einverstanden. »Vielleicht etwas mehr Wein, hmm? Dann können wir anfangen.«
Nachdem ich ihre Gläser aufgefüllt habe, beginnt der Rabbi zu erzählen. Hingerissen beugt sich der Kaiser vor, doch mir sagen die Worte des Rabbis wenig. Löw zieht
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