Angelglass (German Edition)
hinüber. »Wie es scheint, hast du vollständige Kenntnis über die Kabbala, Spiegel von Prag«, sagt er. »Was sagt Ihr dazu, Rabbi?«
Löw sinnt einen Augenblick nach. »Mein ganzes Leben lang studiere ich die Kabbala und habe dabei gerade einmal an ihrer Oberfläche gekratzt, Exzellenz. Euer Meister Poutnik verfügt über ein Wissen, das ich bei einem so jungen Mann für unmöglich gehalten hätte. Und noch dazu hängt er nicht dem jüdischen Glauben an. Mit der Ernennung Eures Spiegels von Prag habt Ihr eine kluge Wahl getroffen, Exzellenz. In der Tat eine kluge Wahl, hmm?«
Rudolf klettert mühsam von seinem Thron und hält dem Rabbi seine beringte Hand entgegen. »Unsere Zusammenkunft ist fürs Erste beendet, Rabbi Löw. Ich muss mich Staatsangelegenheiten widmen. Doch wir müssen uns bald wieder unterhalten.«
Der Rabbi nickt, wischt mit dem Saum seines Gewands über die Kreidezeichnung auf dem Boden und macht sie unleserlich.
»Und meine Schäfchen im Getto, Exzellenz?«
»Auch darüber werden wir sprechen, Rabbi Löw.«
»Sehr wohl, Exzellenz. Gehabt Euch wohl. Auch Ihr, Spiegel von Prag.«
Der Rabbi verschmilzt mit den Schatten und ist verschwunden. »Komm, Meister Poutnik«, sagt Rudolf. »Sonst kommen wir zu spät zu unserem Bankett.«
In der großen Halle in der Mitte des Schlosses ist Drebbels Unterseeboot sorgfältig auf einen Sockel platziert worden. Der Holländer und seine Mannschaft erfreuen sich am Wein, den feinen Speisen und der kriecherischen Ergebenheit des böhmischen Adels. Kepler schwirrt am Rande des Gedränges umher und versucht verzweifelt, Drebbels Aufmerksamkeit zu erhaschen, um mit ihm über seine Gesetze der Planetenbewegung zu diskutieren. Sir Anthony und Finn tauschen Kriegserfahrungen aus, nur Percy ist nirgendwo zu sehen. Ich bin nicht in der Stimmung für Festlichkeiten und laufe im Saal umher. Die Begegnung mit dem Rabbi sowie die seltsamen Auswirkungen, die seine Worte auf mich hatten, verwirren mich. Wie kommt es nur, dass ich mehr über den Himmel und den Kosmos weiß als über die materielle Welt? Mit grübelndem Gesichtsausdruck sieht Lang zu mir herüber, und ich wünschte, mich seinem Falkenblick entziehen zu können. Missmutig denke ich daran, dass ich Hannah den ganzen Tag nicht gesehen habe, und wende mich an eine Dienstmagd, um sie nach ihr zu fragen.
»Sie ist in der Küche«, erwidert sie. Leise schleiche ich mich hinaus, um nach ihr zu suchen.
Hannah steht draußen vor der dampfenden, heißen Küche und macht eine Pause. »Meister Poutnik«, sagt sie freudig überrascht.
»Hannah, ich möchte gerne mit dir sprechen«, sage ich eindringlich. »Geht es jetzt gleich?«
Sie wirft einen Blick in die Küche. »Ich habe eine halbe Stunde Pause. Etwas frische Luft würde mir sicher guttun.«
»Wollen wir vielleicht in die Königlichen Gärten gehen?«
In den Gärten ist es dunkel und kalt. Wir gehen ein Stück in die Laubengänge hinein. »Geht es um gestern?«, fragt Hannah. »Der herabfallende Stein?«
»Nein«, antworte ich gedankenverloren. »Nein. Etwas anderes. Hannah, ich habe Angst um dein Leben.«
Sie sieht mich erstaunt an. »Mein Leben? Du meinst, der Stein war für mich gedacht?«
»Nein. Vielleicht.« Mir wird klar, dass ich gar nicht genau weiß, was ich eigentlich meine. Ripellinos Warnungen sind einfach viel zu vage. »Ich wollte mich nur versichern, dass es dir gut geht«, antworte ich ausweichend.
Hannah lächelt und kommt näher. »Deine Sorge um eine einfache Küchenmagd ist sehr schmeichelnd, Meister Poutnik«, murmelt sie und sieht mir in die Augen. »Und verdient ein Zeichen des Danks.«
Hannah stellt sich auf die Zehenspitzen und setzt einen Kuss auf meine Lippen, während ihre Hand mit den Locken an meinem Hinterkopf spielt. Sie drückt sich eng an mich. Ich erwidere ihren Kuss.
»Wie süß«, unterbricht uns eine unbekannte Stimme. Hannah zuckt zusammen. Hinter ihr sehe ich eine Gestalt aus den Schatten der Feigenbäume treten. »Sieht so aus, als gäbe es hier viele Leckereien, was?«
Der Störenfried ist ein Kampfsoldat von Furcht einflößendem Äußeren. Er trägt nicht die Uniform der Palastwachen, sondern einen eher unscheinbaren Lederharnisch sowie Kniehosen. Sein strähniges Haar ist angegraut, sein Gesicht vom Kampf gezeichnet. Das vielleicht Schrecklichste an seiner Erscheinung ist das fehlende linke Auge. Nur ein Haufen Narbengewebe starrt uns aus der Augenhöhle blind entgegen. Ein spöttisches Grinsen umspielt
Weitere Kostenlose Bücher