Angelique Der Gefangene von Notre Dame
auf.
»Ich bin unschuldig!«
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Sein Ruf hallte durch die Totenstille.
Dann sprach er mit leiser, tonloser Stimme weiter: »Baron de Masseneau de Pouillac, ich bin mir darüber im Klaren, dass jetzt für mich nicht mehr die Zeit ist, meine Unschuld zu beteuern. Also werde ich schweigen. Aber ehe ich gehe, möchte ich Euch in aller Ãffentlichkeit für Euer Bemühen um die Gerechtigkeit danken, die Ihr in einem Prozess zu wahren versucht habt, dessen Vorsitz und Urteil Euch aufgezwungen wurden. Lasst Euch von einem Edelmann aus altem Geschlecht versichern, dass Ihr würdiger seid, ein Wappen zu führen, als diejenigen, die Euch regieren.«
Die Züge des Toulouser Richters verzerrten sich. Abrupt riss er die Hand vor die Augen und rief in jener okzitanischen Sprache, die nur Angélique und der Verurteilte verstanden: »Lebt wohl! Lebt wohl, Bruder meiner Heimat.«
Kapitel 17
D rauÃen in der dunklen Nacht, die sich allmählich der Morgendämmerung näherte, schneite es, und der Wind trieb groÃe Flocken vor sich her. Ãber den dicken weiÃen Teppich stolpernd, verlieÃen die Anwesenden den Justizpalast. Laternen schaukelten an den Wagenschlägen der Kutschen.
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Halb von Sinnen klammerte sich Carmencita de Mérecourt an die Robe eines nach Hause eilenden Richters. Sie bezichtigte sich laut schreiend, ihre einzige Liebe ermordet zu haben.
Angélique bahnte sich einen Weg durch die von dem skandalösen Auftritt wie gelähmte, schweigende Menge. Mechanisch setzte sie einen Fuà vor den anderen. In dieser trotz der eisigen Kälte halbnackten Frau, deren Stimme das Brausen des Schneesturms übertönte, erkannte sie Carmencita kaum wieder.
»Verhaftet mich... Er ist unschuldig! Ich habe gelogen! Ich wollte mich rächen, weil er sie liebte! Er liebte die andere, mich hat er nicht mehr geliebt.«
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Zehn Männer waren nötig, um ihre Fingernägel aus dem Saum der Robe des Vorsitzenden Masseneau zu lösen, in die sie sich gekrallt hatte.
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Angélique ging davon, eine einsame Gestalt in den dunklen Stra Ãen von Paris. Beim Verlassen des Justizpalasts war sie im Gedränge von der Nonne getrennt worden.
Stumpfsinnig machte sie sich auf den Heimweg in den Temple.
Sie dachte nichts; sie wollte nur noch zurück in ihr kleines Zimmer und sich über Florimonds Wiege beugen.
Wie lange stolperte sie so vor sich hin...? Die StraÃen waren menschenleer. Bei diesem fürchterlichen Wetter hatten sich sogar die Räuber verkrochen. Aus den Schenken drang nur noch wenig Lärm, denn die Nacht neigte sich dem Ende zu, und die Betrunkenen, die noch nicht in ihre Betten heimgekehrt waren, schnarchten unter den Tischen oder klagten einem halb schlafenden Mädchen ihr Leid. Der Schnee bedeckte die Stadt mit einer dumpfen Stille.
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Erst als Angélique sich der Mauer um den Temple näherte, fiel ihr ein, dass die Tore geschlossen sein mussten. Doch dann hörte sie die Turmuhr von Notre-Dame de Nazareth und zählte fünf Schläge. In einer Stunde würde der Amtmann aufschlieÃen lassen. Sie überquerte die Zugbrücke und kauerte sich im Tordurchgang zusammen. Geschmolzene Schneeflocken liefen ihr übers Gesicht. Zum Glück hatte sie das bequeme grobwollene Nonnengewand mit seinen verschiedenen Röcken, der breiten Haube und dem Kapuzenmantel vor der Kälte geschützt. Nur ihre FüÃe waren eiskalt.
Das Kind regte sich in ihrem Leib. Sie legte die Hände auf ihren Bauch und umklammerte ihn in plötzlichem Zorn. Warum wollte dieses Kind leben, wenn Joffrey bald sterben würde...?
Da riss unvermittelt der wogende Schneeschleier auf, und ein gewaltiges Ungetüm sprang keuchend unter das Gewölbe.
Nachdem der erste Schreck verflogen war, erkannte Angélique den Hund des Advokaten.
Sorbonne hatte die Pfoten auf ihre Schultern gelegt und leckte ihr mit seiner rauen Zunge übers Gesicht. Angélique streichelte ihn, während sie suchend in die Dunkelheit hinausblickte, wo das dichte Schneetreiben anhielt. Sorbonne, das bedeutete Desgrez. Desgrez würde kommen, und mit ihm neue Hoffnung. Ihm
würde etwas einfallen. Er würde ihr sagen, was sie tun mussten, um Joffrey zu retten.
Sie hörte die Schritte des jungen Mannes auf der hölzernen Brücke. Vorsichtig kam er näher.
»Seid Ihr da?«, flüsterte er.
»Ja.«
Er kam heran. Sie sah ihn nicht, aber
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