Angelique Der Gefangene von Notre Dame
abscheuliche kleine Götzenbild, dessen Autorität sie alle anerkannten.
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Rodogone der Ãgypter legte erneut eine Hand auf Angéliques Schulter. Diesmal schüttelte sie sie nicht ab. Die Hand war warm und lebendig, und ihr war doch so kalt! Der Mann war stark, und sie war schwach. Sie sah zu ihm auf und versuchte im Schatten des Huts das Gesicht zu erkennen, das ihr keinen Abscheu einflöÃte. Das WeiÃe in den lang gezogenen Augen des Zigeuners leuchtete. Er stieà einen Fluch zwischen den Zähnen hervor und stützte sich schwer auf sie.
»Willst du meine âºMarquiseâ¹ sein? Ja, ich glaube, ich würde so weit gehen.«
»Würdest du mir helfen, jemanden umzubringen?«, fragte sie.
Der Bandit warf mit einem grausigen, lautlosen Lachen den Kopf in den Nacken.
»Zehn, zwanzig Leute, wenn du willst! Du brauchst mir den
Kerl nur zu zeigen, und ich schwöre dir, bis zum Morgengrauen liegen seine Eingeweide auf dem Pflaster.«
Er spuckte in seine Hand und hielt sie ihr hin.
»Schlag ein, dann sind wir uns einig.«
Aber sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schüttelte den Kopf.
»Noch nicht.«
Ihr Gegenüber fluchte erneut, dann trat er zur Seite, ohne Angélique dabei aus den Augen zu lassen.
»Du bist stur«, sagte er. »Aber ich will dich. Und ich werde dich bekommen.«
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Angélique strich sich mit der Hand über die Stirn. Wer hatte diese grausamen, gierigen Worte schon einmal zu ihr gesagt...? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern.
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Plötzlich kam es zwischen zwei Soldaten zum Streit. Nachdem die Prozession der Bettler beendet war, kamen in der Parade der Gaunerzunft nun die schlimmsten Räuber der Hauptstadt an die Reihe, nicht nur die Beutelschneider und Mantelräuber, sondern auch die gedungenen Mörder, die Diebe und die Einbrecher, unter die sich liederliche Studenten, Knechte, ehemalige Galeerensträflinge und ein ganzes Heer von Fremden mischte, die die Wechselfälle der Kriege in die Stadt gespült hatten: Spanier und Iren, Deutsche, Schweizer und auch Zigeuner.
Bei dieser Vollversammlung der Gauner- und Bettlerzunft sah man sehr viel mehr Männer als Frauen, und dabei waren nicht einmal alle gekommen. So groà der Friedhof der Unschuldigen Kinder auch war, er hätte niemals all die Bedürftigen und AusgestoÃenen der Stadt aufnehmen können.
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Unversehens trieben die Kamesierer des GroÃen Coesre die Menge mit Ruten auseinander und bahnten sich einen Weg zu
dem Grab, an dem Angélique lehnte. Als die unrasierten Männer vor ihr stehen blieben, erkannte sie, dass sie zu ihr wollten. Der Greis namens Rôt-le-Barbon ging vorneweg.
»Der König von Tunis will wissen, wer die Frau ist«, sagte er und deutete dabei auf Angélique.
Rodogone legte einen Arm um ihre Taille.
»Mach keinen Mucks«, flüsterte er. »Das regeln wir schon.«
Er zog sie mit sich vor das Predigerhäuschen, wobei er sie immer noch an sich gedrückt hielt. Er warf hochmütige und gleichzeitig misstrauische Blicke in die Menge, als fürchtete er, ein Feind könne unvermittelt auftauchen und ihm seine Beute entreiÃen.
Seine Stiefel waren aus feinem Leder, und sein Rock wies keinen einzigen Flicken auf. Unbewusst registrierte Angélique all diese Einzelheiten. Der Mann machte ihr keine Angst. Er war an Macht und Kampf gewöhnt. Und Angélique fügte sich seinem Anspruch als besiegte Frau, die nicht ohne einen Herrn sein kann.
Als sie vor dem GroÃen Coesre standen, streckte der Zigeuner den Kopf vor, spuckte aus und erklärte: »Ich, der Herzog von Ãgypten, nehme die da zur Marquise.«
Und mit schwungvoller Geste warf er eine Geldbörse in das Becken.
»Nein!«, entgegnete darauf eine ruhige, grausame Stimme.
Mit einem Satz schwang Rodogone herum.
»Calembredaine!«
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Wenige Schritte vor ihnen stand im Mondlicht der Mann mit der violetten Geschwulst, der sich Angélique schon zweimal hämisch lachend in den Weg gestellt hatte.
Er war genauso groà wie Rodogone, aber kräftiger gebaut.
Seine zerlumpten Kleider gaben den Blick auf muskulöse Arme und eine behaarte Brust frei. Breitbeinig stand er da, die Daumen in seinen breiten Ledergürtel gehakt, und schaute den
Zigeuner herausfordernd an. Sein athletischer Körper wirkte jünger als sein abscheuliches Gesicht, das halb von seinem verfilzten
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