Angelique Der Gefangene von Notre Dame
glaubte, mitten in einen Albtraum geraten zu sein, waren die vier Galerien, die, von der Kirche ausgehend, den Friedhof umschlossen.
Diese aus dem Mittelalter stammenden Gebäude hatten im unteren Teil einen Kreuzgang mit spitzbogigen Arkaden, wo die Händler tagsüber ihre Waren ausbreiteten.
Aber zwischen diesem Kreuzgang und den darüberliegenden, zur Friedhofsseite hin auf Holzstützen ruhenden Ziegeldächern gab es eine offene Galerie, deren Kammern vollständig mit Knochen ausgefüllt waren. Tausende und Abertausende von Totenschädeln und die Ãberreste ebenso vieler Skelette waren dort gestapelt. Diese bis unters Dach mit einer makabren Ernte gefüllten Speicher des Todes präsentierten den Blicken und Gedanken der Lebenden eine unvorstellbare Sammlung von Schädeln, die im Luftzug austrockneten, bis sie irgendwann zerfielen. Doch unentwegt wurden sie durch frischen Nachschub aus dem Boden des Friedhofs ersetzt.
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Denn überall sah man neben den Gräbern säuberlich aufgeschichtete Knochenstapel und die unheimlichen weiÃen Totenschädel, die die Totengräber zusammengetragen hatten, damit sie morgen in die Speicher über dem Kreuzgang gebracht werden konnten.
»Was... was ist das?«, stammelte Angélique, für die ein solcher Anblick nicht in die Wirklichkeit gehören konnte und die daher fürchtete, verrückt geworden zu sein.
Der Zwerg Barcarole hockte auf einem Grab und musterte sie neugierig.
»Die Beinhäuser!«, antwortete er. »Das sind die Beinhäuser der Unschuldigen Kinder! Die schönsten Beinhäuser von ganz Paris!«
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Wo kommst du denn her? Kennst du denn überhaupt nichts?«
Sie setzte sich neben ihn.
Seit sie dem Fechter, ohne es zu merken, das Gesicht zerkratzt hatte, lieà man sie in Ruhe, und niemand sprach sie mehr an.
Wenn sich neugierige oder lüsterne Blicke auf sie richteten, erhob sich gleich eine warnende Stimme: »Cul-de-Bois hat gesagt, sie gehört uns. Also Vorsicht, Männer!«
Angélique bemerkte nicht, dass sich der Friedhof, der noch kurz zuvor halb verlassen dagelegen hatte, allmählich mit einer Vielzahl zerlumpter, bedrohlicher Gestalten füllte.
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Sie war wie gebannt vom Anblick der Beinhäuser. Sie wusste nicht, dass diese grausige Neigung, die Knochen der Toten aufzuschichten, eine besondere Eigenheit der Pariser war. Alle groÃen Kirchen der Hauptstadt versuchten es dem Friedhof der Unschuldigen Kinder gleichzutun. Angélique fand diesen Brauch entsetzlich. Für den Zwerg Barcarole hingegen war es ein wunderschöner Anblick. Leise murmelte er vor sich hin:
» Und endlich kommt der unselige Tag ...
Wie traurig, dem Tod in die Augen zu sehen
und nicht zu wissen, wohin man wird gehen! «
Langsam drehte sich Angélique zu ihm um.
»Bist du ein Dichter?«
»Die Verse sind nicht von mir, sondern vom Schmutzpoeten.«
»Kennst du ihn?«
»Das will ich wohl meinen! Er ist der Dichter vom Pont-Neuf!«
»Den will ich auch töten.«
Der Zwerg zuckte zusammen wie eine Kröte.
»Was? Mach keine Witze. Das ist mein Freund.«
Er sah sich um, tippte sich mit dem Finger an die Schläfe und rief den anderen zu: »Die spinnt, die Kleine! Sie will alle Welt abmurksen.«
Mit einem Mal erklang Geschrei, und die Menge teilte sich, um eine seltsame Prozession durchzulassen.
Vorneweg ging eine sehr groÃe, magere Gestalt, die auf nackten FüÃen durch den schlammigen Schnee trippelte. Volles weiÃes Haar fiel dem Mann auf die Schultern, aber sein Gesicht war bartlos. Man hätte ihn für eine Frau halten können, und vielleicht war er ja auch gar kein Mann, trotz der Hosen und der zerlumpten Jacke. Mit seinen hervorstehenden Wangenknochen und seinen schwermütigen, trüben Augen wirkte er ebenso geschlechtslos wie ein Skelett und passte in den düsteren Rahmen. Er trug eine lange Pike, auf deren Spitze ein toter Hund aufgespieÃt war.
Neben ihm schwang ein kleiner feister, bartloser Mann einen Besen.
Hinter diesen beiden merkwürdigen Fahnenträgern folgte ein Drehleierspieler, der die Kurbel seines Instruments kreisen lieÃ. Das Ungewöhnliche an diesem Musikanten war sein riesiger Strohhut, dessen Krempe ihm bis auf die Schultern herabhing, sodass sein Kopf fast vollständig darin verschwand. Aber in die vordere Seite hatte er ein Loch gebohrt,
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