Angelique Der Gefangene von Notre Dame
eigentlich hätten erwarten dürfen.«
Kopflose Angst, Sorge um das tägliche Brot und die unablässige Furcht um Constants Schicksal hatten den Hintergrund für Jeanne de Cardilhacs Leben gebildet. Das Flehen und Betteln wurde ihr zur zweiten Natur. Und das war es, worunter ihre Tochter Françoise am meisten gelitten hatte, als sie sich nach ihrer Rückkehr nach Niort, manchmal zusammen mit ihrer Mutter, manchmal auch allein, in die Schlange der Bedürftigen einreihen musste, die an der Klosterpforte um Suppe und hin und wieder auch um andere Lebensmittel anstanden, die von wohltätigen Menschen gespendet worden waren. Dann musste sie die Blicke und Kommentare dieser Leute ertragen, von denen viele zu ihrer Verwandtschaft gehörten, entweder über die Familie dâAubigné oder über die Vilette de Mursays, die protestantischen Verwandten der perfekten Tochter des groÃen Agrippa.
Madame Scarron verstummte, und Angélique ahnte, dass sie kurz davor war, zwar nicht zu bereuen, aber doch, sich zu wundern, dass sie so offen über Themen gesprochen hatte, die sie sonst wahrscheinlich eher mied.
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Angélique erkannte, dass sie selbst auf dem besten Weg war, genauso zu werden wie Francoise. Sie hatte keine Lust mehr,
ihre Geschichte zu erzählen, nicht nur wegen ihrer Feinde, sondern auch, weil sie spürte, dass ihr Schicksal niemanden interessierte. Das Dunkel des Schweigens würde sich wie ein Mantel über Erinnerungen breiten, die sie mit niemandem mehr teilen könnte. Für diese Erinnerungen würde es keine Vertrauten geben. Sie spürte, dass es für Françoise ganz genauso gewesen war. Diese schien sich unbehaglich zu fühlen, weil sie die Zurückhaltung gebrochen hatte, die sie sich seit ihrer frühesten Kindheit auferlegt hatte. Angélique ahnte, wie gefährlich solche Zwänge waren, da sie sie dazu brachten, für alle Zeiten zu schweigen und den haltlosen Gerüchten und Verleumdungen freie Bahn zu lassen, von denen sie ihren Ruf niemals wieder würde reinwaschen können.
»Macht Euch keine Vorwürfe, dass Ihr so offen zu mir wart, Madame«, sagte sie. »Manchmal hilft uns eine bessere Kenntnis unserer Freunde dabei, uns selbst in unserem eigenen Unglück einzuordnen und unsere Feinde zu erkennen. Wisst Ihr, ich bin im Temple, weil mein Gemahl verhaftet wurde, es ist sogar die Rede davon, dass ihm wegen Hexerei der Prozess gemacht werden soll...«
Angélique erkannte, über welche Selbstbeherrschung die junge Witwe verfügte, denn bis auf ein knappes Nicken, das Aufmerksamkeit und Bedauern ausdrückte, lieà sie sich keine Reaktion anmerken. Normalerweise veränderte sich bei der Erwähnung des Wortes »Hexerei« der Gesichtsausdruck ihrer Gesprächspartner, und manche erbleichten.
Françoise Scarron hingegen erwiderte lediglich, dass sie selbst und ihre Kammerfrau Nanon Balbien, die Angélique sicherlich schon einmal gesehen hatte, da sie gelegentlich herkam, um ihr über den Fortgang der Auflösung ihres Haushalts in der Rue Neuve Saint-Louis Bericht zu erstatten, auf ihren kleinen Sohn aufpassen und sich um ihn kümmern könnten, wenn sie gezwungen wäre, fortzugehen, um ihre Advokaten aufzusuchen oder
all die ärgerlichen Besorgungen und Gespräche zu erledigen, die unweigerlich mit einem Prozess verbunden waren â¦
Angélique war sehr gerührt und erleichtert über dieses Angebot. Selbst wenn sie nur zu Raymond ins Haus der Jesuiten ging oder sonntags die Messe besuchte, lieà sie Florimond ungern allein. Meistens weinte er laut, wenn sie zurückkam, und war furchtbar wütend. Sie dankte Françoise Scarron von Herzen. Dann trennten sie sich, beide ein wenig aufgeheitert.
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Jetzt, wo das Schicksal ihres Gemahls nicht mehr allein von ihren Bemühungen abhing, überkam Angélique ein gewisser Fatalismus, an dem ihr Zustand nicht ganz unschuldig war. Auch wenn sie allen Grund zur Sorge gehabt hätte, verlief ihre Schwangerschaft völlig normal. Das Kind, das sie erwartete, war quicklebendig und wuchs ohne jeden Zweifel heran, obwohl sie selbst immer noch sehr schlank war. Die Witwe Cordeau versicherte ihr, dass es ein Mädchen sein würde, ein etwas scheinheiliges Mädchen sogar, weil es schon jetzt so tat, als sei es gar nicht da.
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Eines Tages besuchte Gontran seine Schwester, um sich von ihr zu verabschieden. Er würde auf die
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