Angelique Der Gefangene von Notre Dame
verstand.
»Da mögt Ihr recht haben«, entgegnete die fröhliche, melodische Stimme, »aber es liegt doch nur an uns, zu verhindern, dass eine Abhängigkeit, die auch nicht demütigender ist, als um Pensionen zu betteln, zur Sklaverei wird. Der âºGönnerâ¹ zum Beispiel, der mir gegenwärtig ermöglicht, in einer prächtigen Kutsche durch die Stadt zu fahren, gibt sich bereitwillig mit zwei kurzen Besuchen im Monat zufrieden. âºFür fünfhundert Livresâ¹, habe ich ihm gesagt, âºkann ich unmöglich mehr geben.â¹ Er fügt sich, denn er weià genau, dass er ansonsten gar nichts bekommen würde. Er ist ein anständiger Mann, aber das einzig Gute an ihm ist, dass er sich hervorragend mit Fleisch auskennt, denn sein GroÃvater war Fleischer. Er berät mich, wenn ich Gäste empfange. Ich habe ihn auch gewarnt, dass er sich ja nicht einfallen lassen soll, eifersüchtig zu werden, denn ich lege groÃen Wert auf meine kleinen Launen. Ihr seid schockiert, meine Schöne? Ich sehe es daran, wie Ihr Eure hübschen Lippen zusammenpresst. Und dabei gibt es nichts Vielfältigeres in der
Natur als die Freuden der Liebe, auch wenn sie im Grunde immer gleich bleiben.«
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Als Angélique ihre Freundin das nächste Mal sah, konnte sie es sich nicht verkneifen, nach der seltsamen Besucherin zu fragen.
»Glaubt bitte nicht, dass ich Wert darauf lege, Frauen dieser Art zu empfangen«, antwortete Françoise etwas verlegen. »Aber man muss wirklich zugeben, dass Ninon de Lenclos eine reizende und überaus geistreiche Freundin ist. Sie hat mir sehr geholfen und tut ihr Bestes, um mir vorteilhafte Beziehungen zu verschaffen. Trotzdem frage ich mich, ob ihre Empfehlungen mir nicht eher schaden als nutzen.«
»Ich hätte sie zu gern kennengelernt und ein wenig mit ihr geplaudert«, sagte Angélique. »Ninon de Lenclos...«, wiederholte sie träumerisch. »Als sich abzeichnete, dass ich nach Paris kommen würde, habe ich gedacht: âºHoffentlich gelingt es mir, in den Salon von Ninon de Lenclos eingeladen zu werden!â¹Â«
»Ich will sterben, wenn ich lüge!«, rief die junge Witwe mit leuchtenden Augen. »Es gibt keinen Ort in Paris, an dem man sich wohler fühlen könnte. Der Ton dort ist himmlisch, die Schicklichkeit bemerkenswert, und man langweilt sich nicht eine Sekunde lang. Ninons Salon ist wahrhaft eine Falle des Teufels, denn niemand würde vermuten, dass er von einer Frau mit so verdammenswertem Lebenswandel geführt wird. Ihr wisst doch, was über sie gesagt wird: âºNinon de Lenclos hat mit allen bedeutenden Männern der Zeit von Ludwig XIII. geschlafen, und nun schickt sie sich an, das Gleiche auch mit denen von Ludwig XIV. zu tun.â¹ Was mich im Ãbrigen nicht wundern würde, denn ihre Jugend scheint ewig zu währen.«
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Als Angélique an diesem Tag zum zweiten Mal das kleine Besucherzimmer der Jesuiten betrat, erwartete sie dort nicht nur ihren Bruder vorzufinden, der sie hatte rufen lassen, sondern
auch den Advokaten Desgrez, den sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Aber stattdessen befand sich in dem Raum lediglich ein kleiner Mann mittleren Alters. Er war schwarz gekleidet und trug eine aus Rosshaar gefertigte Kanzlistenperücke mit einem aufgenähten runden Käppchen aus schwarzem Leder.
Er stand auf und grüÃte sie linkisch und auf etwas altmodische Weise, bevor er erklärte, er sei Gerichtsschreiber und von Maître Desgrez in der Angelegenheit des Sieur Peyrac hinzugezogen worden.
»Ich beschäftige mich erst seit drei Tagen mit diesem Fall, aber ich habe mich bereits ausgiebig mit Maître Desgrez und Maître Fallot besprochen. Sie haben mich über alle Einzelheiten in Kenntnis gesetzt und mich mit der Abfassung der üblichen Schriftstücke und der Einleitung Eures Prozesses beauftragt.«
Angélique stieà einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Gott sei Dank, jetzt ist es endlich so weit!«, rief sie.
Entrüstet musterte der kleine Mann diese Klientin, die offenkundig nicht die leiseste Ahnung von den Anforderungen eines Gerichtsverfahrens hatte.
»Wenn Maître Desgrez mir die auÃerordentliche Ehre erwiesen hat, mich um meinen Beistand zu bitten, dann deshalb, weil diesem jungen Mann bewusst geworden ist, dass er trotz der ganzen Diplome, die er dank seiner hohen Intelligenz erworben hat, jemanden
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