Angélique - In den Gassen von Paris
in der Nähe der Plattform stehen geblieben. Der Wind, der von der Seine heranwehte und in ihrem Haar spielte, trug noch zu der Illusion vom offenen Meer bei, die bei dem Wort »Amerika« in ihr aufgestiegen war. Sie dachte an ihren Bruder Josselin und sah wieder, wie er seinen strahlenden, ungebärdigen Blick auf sie richtete.
»Ich jedenfalls werde Seemann … «, hatte er geflüstert.
Pastor Rochefort war eines Abends gekommen und hatte sich mit den Sancé-Kindern an den Kamin gesetzt, die ihn umringten und staunend die Augen aufrissen. Josselin … Raymond …Hortense … Gontran … Angélique … Madelon … Denis … Marie-Agnès … Wie schön sie gewesen waren, die Sancé-Kinder, in ihrer Unschuld und Ahnungslosigkeit, noch ohne einen Begriff davon, was die Zukunft für sie bereithielt! Sie lauschten dem Fremden, und seine Worte ließen ihre Herzen höher schlagen.
»Ich bin bloß ein Reisender, neugierig auf fremde Länder und begierig, jene Orte kennenzulernen, wo niemand Hunger und Durst leidet und die Menschen frei sind. Dort habe ich erkannt, dass alles Übel vom weißen Mann kommt, weil er nicht auf das Wort des Herrn gehört, sondern es ins Gegenteil verkehrt hat. Denn der Herr hat nicht befohlen, zu töten und zu zerstören, sondern einander zu lieben.«
Angélique schloss die Augen.
Als sie sie wieder aufschlug, sah sie in einigen Schritten Entfernung inmitten des Gewimmels auf dem Pont-Neuf Jactance, Gros-Sac, La Pivoine, Gobert, Beau-Garçon und die anderen. Sie starrten sie an.
»Schwesterchen«, sagte La Pivoine und nahm ihren Arm, »ich werde eine Kerze von dem Ewigen Vater von Saint-Pierre-aux-Boeufs anzünden. Wir haben nicht geglaubt, dich noch einmal wiederzusehen.«
»Wir konnten uns nur vorstellen, dass du entweder im Châtelet oder im Armenhaus wärest.«
»Oder dass der verfluchte Hund dich totgebissen hätte.«
»Tord-Serrure und Prudent haben sie geschnappt. Sie sind heute Morgen auf der Place de Grève gehängt worden.«
Die Gauner umringten sie. Und so sah sie ihre finsteren Gesichter wieder, hörte ihre rauen Säuferstimmen und
spürte die Fesseln der Gaunerzunft. Unmöglich, diese Ketten an einem Tag abzuschütteln. Doch seit diesem Tag, den sie von nun an bei sich den »Tag auf dem Heukahn« oder den »Tag auf dem Pont-Neuf« nannte, trug sie einen Funken Hoffnung in sich, obwohl sie keine Ahnung hatte, warum. Aus den Niederungen steigt man nicht so rasch auf, wie man hinabstürzt.
»Das wird ein Spaß, meine Schöne«, erklärte La Pivoine. »Weißt du, warum wir am helllichten Tag auf dem Pont-Neuf herumspazieren? Der kleine Flipot soll heute sein Meisterstück als Beutelschneider abliefern.«
Flipot, einer der jungen Bengel aus der Tour de Nesle, hatte aus diesem Anlass seine Lumpen gegen einen Anzug aus violettem Serge und schwere Schuhe ausgetauscht, in denen er nicht schlecht lief. Er trug sogar eine Halskrause. Mit einer Tasche aus Samt, die aussah, als trüge er darin Bücher, Tafeln und Stifte herum, gab er eine recht überzeugende Darstellung eines Handwerkersohns ab, der auf dem Pont-Neuf beim Marionettentheater die Schule schwänzt.
Jactance setzte ihm seine Aufgabe in schulmeisterlichem Ton auseinander.
»Hör zu, Kleiner. Heute geht es nicht nur ums Beutelschneiden, wie du es schon gemacht hast … Wir wollen feststellen, ob du imstande bist, bei einer Rauferei zu gewinnen und dich zu verdrücken. Hast du verstanden?«
» Cy «, gab Flipot zurück.
Denn so sagte man »ja« in der Gaunersprache. Dann schniefte er nervös und wischte sich mit dem Ärmel mehrmals über die Nase.
Sie schoben ihn in die Menschenmenge und gaben ihm noch letzte Ratschläge mit auf den Weg.
»Wenn dir vom Schneiden die Hand müde wird, steck die Schere in deinen Rucksack. Und dann soll deine Hand den Weg in die Taschen der Händlerinnen und der Damen finden, in die Falten ihrer Kittel oder ihrer schönen Kleider. Ihre Taschen sind groß und zahlreich … Und pass unbedingt auf, dass dich niemals ein Sergeant mit seinem Stab berührt 4 … Solange er dich noch nicht damit berührt hat, kannst du noch versuchen, ihm zu entwischen. Aber wenn du ihm wegläufst, nachdem das Siegel des Königs dich berührt hat, bist du der Majestätsbeleidigung schuldig, und das gibt den Galgen … wenn nicht Schlimmeres!«
Flipot warf sich in die Brust. Er war erfüllt von seiner Wichtigkeit und dieser bedeutsamen Unternehmung, die ihn zum Manne machen würde; das heißt, zu einem
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