Angels - Meine Rache waehrt ewig
Schluck Bier. Auf dem Foto sah Vater Mathias beinahe verklärt aus, sein Gesichtsausdruck war gütig, freundlich, friedlich. Er trug ein weißes Messgewand mit einem golddurchwirkten Umhang. Seine Hände waren gefaltet, und die blauen Augen hinter der randlosen Brille blickten direkt in die Kamera. Er hatte ein markantes Kinn, eine ausgeprägte Unterlippe und eine schmale Nase. Das Foto vermittelte dem Betrachter den Eindruck, einen unerschütterlichen, frommen Mann des Glaubens vor sich zu haben – ganz anders als das Bild, das Jay kurz zuvor von ihm gewonnen hatte. Da hatte der Priester völlig aufgelöst gewirkt, als hätte er etwas zu verbergen oder als würde er von Furien gehetzt.
Wieso?
Jay schüttelte den Kopf. Es war ein langer Tag gewesen, und er musste schon bei Tagesanbruch aufstehen und nach New Orleans zurückfahren. Er wollte gerade alle Gedanken an den Geistlichen beiseiteschieben, als er auf die E-Mail-Adressen der Teilnehmer von Vater Mathias’ Seminar und auf dessen Unterrichtsplan stieß. Wieder entdeckte er Kristi Bentz’ Namen und runzelte die Stirn.
Vielleicht hatte Gayle recht gehabt, als sie ihn beschuldigt hatte, nie ganz über seine Highschool-Liebe hinweggekommen zu sein. Damals hatte das für ihn lächerlich geklungen, wie das Gezeter einer eifersüchtigen Frau.
Dennoch …
Nachdem er Kristi wiedergesehen hatte, musste er feststellen, dass ihr Anblick ihm noch immer unter die Haut ging. Es war nicht so, dass er wieder mit ihr zusammen sein wollte. Auf gar keinen Fall. Aber er konnte auch nicht leugnen, dass sie irgendetwas an sich hatte, das ihn auf dumme Gedanken brachte und längst vergessene Erinnerungen in ihm wachrief.
Er atmete schwer aus.
Das Klügste – das einzig Kluge – war, ihr so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen.
War es denn nicht schlimm genug, dass sie meinte, den Tod ihres Vaters vorhersagen zu können? Musste sie sich nun auch noch mit dem unglückseligen Schicksal anderer Leute belasten?
Kristi sperrte die Tür ihres Apartments auf und betrat Tara Atwaters ehemalige Wohnung. Tara Atwater, die nun als vermisst galt.
Hör auf damit. Das Apartment hat nichts mit Taras Verschwinden zu tun. Hättest du es nicht auch genommen, wenn du gewusst hättest, dass sie darin gewohnt hat?
»Nein, bestimmt nicht«, murmelte sie und konnte eine Gänsehaut nicht unterdrücken. Sie versicherte sich zweimal, dass das Sicherheitsschloss richtig eingeschnappt war, als Houdini, der auf dem Dach gewartet haben musste, durch den offenen Fensterspalt sprang, über die Küchenzeile flitzte und verschwand.
»Meine Stiefmutter bekäme einen Herzinfarkt, wenn sie dich auf den Schränken sehen würde«, sagte Kristi. Die Katze linste aus ihrem Versteck. Houdini ließ sie immer noch nicht an sich heran, aber er schien mit ihr kommunizieren zu wollen.
Sie füllte die Katzenschüssel und machte für sich selbst in der Mikrowelle Popcorn. Die nächsten anderthalb Stunden verbrachte sie damit, ihren Schreibtisch aufzuräumen, nicht nur für ihr Studium, sondern auch, um ihre Notizen zu dem geplanten Buch zu ordnen, das Buch über die verschwundenen Mädchen.
Kristi blickte sich in dem kleinen Apartment um. Hatte Tara wie sie auf der Bettcouch geschlafen? Hatte sie bemerkt, dass der kleine Kleiderschrank nach Mottenkugeln roch? Hatte sie sich über den geringen Wasserdruck beschwert? Hatte sie sich auch Popcorn gemacht, dieselbe Mikrowelle benutzt, denselben unheimlichen Eindruck gehabt, dass jemand sie beobachtete?
Kristi schloss ihren Laptop an den Drucker an, loggte sich ins Internet ein und begann, jeden Artikel runterzuladen und auszudrucken, den sie über die vermissten jungen Frauen finden konnte. Sie ging auf deren MySpace-Seiten und suchte nach jedem noch so kleinen Hinweis, dass sie einer Sekte angehörten oder sich für Vampire interessierten. Sollte sie auf irgendwelche Verbindungen stoßen, was ihre Vorlieben oder Abneigungen betraf, würde sie dem nachgehen. Doch heute Abend wollte sie zunächst nur Informationen sammeln.
Das Popcorn blieb fast unberührt, während sie nach Seiten mit Sekten und Vampiren suchte, die auf das All Saints College verwiesen. Sie stellte fest, dass eine überraschende Anzahl von Gruppen und Gruppierungen mit den Themen Vampire/Werwölfe/Übersinnliches befasst war. Manche der Websites und Chatrooms dienten offensichtlich nur Besuchern mit einem vorübergehenden Interesse, aber es gab auch andere Seiten, bei denen man den Eindruck
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