Angezogen - das Geheimnis der Mode
der funktionale Herrenanzug, der peu à peu und verstärkt zu Anfang des 20. Jahrhunderts in die Damenmode übertragen wurde. So, und nur so, konnte die Damenmode ihren Anachronismus ablegen und modern werden. Coco Chanel, eine Pionierin der neuen, endlich »modernen« Weiblichkeit, hat das auf den Punkt gebracht: »Sie nahm das englische Männliche und machte es weiblich. Ihr ganzes Leben«, so soll Chanel, von sich selbst in der dritten Person redend, zu Salvador Dalí gesagt haben, »hat sie nichts getan als aus Männerkleidern Frauenkleider zu machen: Jacken, Haarschnitt, Krawatten, Manschetten.« 15
Diese Übertragung der modernen Herrenkleidung in die Damenmode lässt sich der Meistererzählung der Moderne bruchlos einfügen, ist es doch im wahrsten Sinne des Wortes eine Geschichte des Fortschritts, des Fortschreitens. Erst die Beinfreiheit macht die Eroberung des öffentlichen Raumes möglich: Nach dem Vorbild der Männer emanzipieren sich auch die Frauen in dieser fortschreitenden Erfolgsgeschichte einer zunehmenden Befreiung von Zwängen. Ihre Befreiung hat dann auch tatsächlich etwas mit Bewegungsfreiheit zu tun. Das Radfahren machte Fußfreiheit und idealerweise Beinfreiheit notwendig, und dasselbe gilt für das Tennisspielen und das Skifahren.
Dieses Begehren nach praktischer Beinfreiheit ist im Übrigen nicht spezifisch modern. Bereits im Ancien Régime zogen viele Frauen es vor, nicht im Damensitz zu reiten, sondern wie die Männer zu Pferde zu sitzen. Marie Antoinette etwa, hoch zu Pferde wie Ludwig XIV. Kriegerische Frauen, die wie die Adeligen der Fronde Armeen befehligten, trugen zu Pferde ebenfalls Hosen. Die moderne Frau trägt kürzere Röcke oder, noch besser, Hosen und Schuhe, die es ihr erlauben, Rad zu fahren, eine Tram zu erklimmen oder auf einen Zug aufzuspringen, ohne sich zu verheddern. Ihre Haare werden kürzer und offen, weil das beim Laufen oder Schwimmen schlicht praktischer ist. Ohne die Maskerade der Weiblichkeit aufführen zu müssen, können auch Frauen endlich wie die Männer authentisch selbstbestimmt sein. Alle Kleidungsvorschriften, die sich ja immer auf die Schamhaftigkeit der Frau bezogen und das Verhüllen empfahlen, werden über den Haufen geworfen. Befreit – das heißt offen für alle sichtbar – werden Beine, Po und Haare. Unsere Urgroßmütter wären nie mit bloßem Haupt oder gar mit offenen Haaren – unfrisiert, sagen die Naiven, die nicht ahnen, wie viel Können und Arbeit so ein leicht verwuschelter Schlafzimmerlook braucht – in die Öffentlichkeit gegangen. Die Bürgerinnen gingen nicht unbehütet vor die Tür, und die Bäuerinnen trugen ein Kopftuch. In der Kirche verhüllte man selbstverständlich sein Haar, auch wenn die Kopfbedeckung immer mehr zu einem symbolischen Spitzenschmuck wurde. Zuvor gepudert, hochgesteckt, geflochten oder zusammengebunden, wurden die Haare jetzt gelockt, gelegt und toupiert – oder durch die neuen Haarschnitte von Vidal in Form gebracht. Offen durften sie ihr erotisches Potential entfalten. Das zur Schau gestellte, gelöste Haar signalisiert im Westen, dass eine Frau der Norm entspricht, heißt: sexuell aufgeschlossen, modern und emanzipiert, selbstbewusst und selbstbestimmt ist. Hinzu kommt die Freiheit vom Korsett. Zwar wurde der Busen in der Aristokratie hin und wieder bis zu den rotgemalten Brustspitzen im Dekolleté gezeigt, aber immer wurde eine Andeutung von Korsage getragen.Das Ablegen des Büstenhalters – komm her, Ma, verbrenn deinen BH –, der nackte Busen unter T-Shirt oder Bluse, eine der erotischen Ikonen der Emanzipation, ist auch ein als »befreiend« empfundenes Moment. Die moderne Frau lässt alles weiblich Verklemmte hinter sich und zeigt sich von der Locke bis zur Zehenspitze frei. Selbstbestimmt darf sie anziehen, was sie will und sich zurechtmachen, wie sie will. Wie tief diese auf weibliche Befreiung und Selbstbestimmung zielende Erzählung, die sich im Erscheinen von Weiblichkeit im öffentlichen Raum ausdrückt, das dem des Mannes gleich sein soll, zum Selbstverständnis der westlichen Gesellschaften gehört, zeigt die so hitzig geführte Debatte um den Schleier, in dem diese schamhafte Weiblichkeit, die die Moderne endgültig überwunden glaubt, im öffentlichen Raum wiederkehrt. Und dort, finden viele, keinen Platz hat.
Nun hat dieses nicht totzukriegende Narrativ zur Entwicklung der Mode in der Moderne einen Haken. Es erzählt die Geschichte der Mode schlicht falsch. Denn weit davon entfernt,
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