Angezogen - das Geheimnis der Mode
körperlichen Reize nicht so anziehen wie die Männer. Seit Nietzsche haben sich die Verhältnisse nicht wirklich geändert. Die jungen »Nichtstuer der Großstädte«, damals Dandys oder Stutzer genannt, und die Frauen legen noch immer allen Wert der Welt auf ihre sichschnell verändernde, von Anachronismen aller Art beherrschte Kleidung, deren erotische Dimension unübersehbar ist. Sie haben das von Nietzsche propagierte europäische Ideal der männlichen Geistesmenschen, die in ihrer Kleidung zeigen, dass sie Wichtigeres zu tun haben, als sich darum zu kümmern, was sie tragen, und denen es darum geht, sich korrekt in die Norm zu fügen, klar nicht erreicht. Die Mode – da reicht ein kurzer Blick in jede Bahnhofsbuchhandlung – ist eine weiblich beherrschte Domäne geblieben. Ein paar Modeseiten in Esquire und GQ machen noch keinen Sommer. Für Modefachleute ist das so klar, dass eine ideale Geschichte der Mode von 197 1 bis heute gar nicht daran denkt, auch nur ein einziges männliches Defilee abzubilden. 91
Puderkriege
Trotz metrosexueller Männer und Dior Boys einerseits – unser Pendant zu Nietzsches Stutzern –, trotz einer den Unisex scheinbar vorantreibenden Mode von Chanel, Jil Sander und Céline andererseits ist es immer noch das weibliche Geschlecht, das sich zum Schmuckstück macht. Nimmt man mit Baudelaire die Schminke als Indiz für babylonische Zustände, dann war die Moderne nie orientalischer als heute. Am augenfälligsten wird dies in den sorgfältig und kunstvoll geschminkten weiblichen Gesichtern, die wie Theatermasken von den Plakatwänden der Großstädte blicken. Um sich dieser Ikone anzunähern, wird viel unternommen.
Die Schönheits- und Wachssalons, Maniküre- und Pediküreketten, die endlosen Regale mit Make-up, künstlichen Nägeln und atemberaubenden Wimpern gehören mittlerweile so fest zum Bild moderner Großstädte wie die elektrische Straßenbeleuchtung. Haartönungen von Platinblond bis Tiefschwarz, Gels und andere styling devices fehlen in keinermittleren Drogeriekette. Das iPad hat einen virtuellen Schminkkasten im Programm, mit dem man Teint, Lidschatten, Wimperntusche, Lippenstift, Haarschnitt und Haarfarbe in unendlichen Varianten an unendlich vielen Gesichtern ausprobieren kann.
Seit dem berüchtigten Rouge Noir von Chanel, das Nagellack zum Kult werden ließ, lackiert sich die Mehrheit der Frauen vom Teenager bis zur Großmutter so unermüdlich wie vielfarbig Fuß- und Fingernägel – das ganze Jahr hindurch und jeden zweiten Tag neu. Variatio delectat. Die Farbpalette hat von nixenhaft schillerndem Grün über gefährlich funkelndes Knatschblau bis zu brüllendem Orange und Quietschgelb das volle Spektrum des Regenbogens eingestellt. French Manicure findet hingebungsvolle Anhängerinnen. Viele tragen ganze Miniaturkunstwerke auf den zu diesem Zwecke eigens präparierten Nägeln. Um den letzten Schlammschrei von Chanel (limited edition) sollen sich die Fans regelrecht geschlagen haben. Ganz so weit haben es die falschen Wimpern noch nicht gebracht, aber sie holen auf. Mögen manche es hierzulande noch mit Wachstums-Boostern für die natürlichen Wimpern probieren, klimpern unsere amerikanischen Schwestern ganz selbstverständlich mit den wesentlich preiswerteren, doch effektiveren künstlichen Wimpern. There is always lipstick on a rainy day – dieser Trost mag unseren Großmüttern frivol vorgekommen sein. Wir greifen viel entschiedener in den Schminkkasten. Das begeisterte Schminken widerlegt die These vom Unisex. Es ist auch einer der Momente, der den Komplex des Orientalisch-Idolatrischen am deutlichsten betont. Genauso wie man die Mode von Restaurationszeit und Biedermeier als ein zweites Rokoko bezeichnet hat, könnte man in Bezug auf die Entwicklung der Schminke im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert von einem dritten Rokoko sprechen.
Die großen Modehäuser machen ihr Geld nicht mit dem Verkauf ihrer Mode, sondern mit dem Verkauf von Parfum und Make-up. Metrosexuelle Männer mögen von Kernseife undWasser abgekommen sein, das Raffinement von duftenden Duschgels, Deodorants, Rasierwässern, Gesichts- und Handcremes entdeckt haben und sogar dem Eau de Toilette nicht mehr abgeneigt sein. Ihre Körperpflege steht dennoch nicht wesentlich im Zeichen des Schmückenden – eben der Schminke –, sondern der Pflege.
Natürlich nehmen auch Männer Hand- und Fußpflege in Anspruch. Natürlich benutzen sie Styling für die Haare. Viele polieren ihre Nägel. Und
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