ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
der Hand nahm, würde sie mich gegen eine Wand fahren.
Also tat ich das. Mit der Hilfe der Anonymen Alkoholiker habe ich mein Leben wieder unter Kontrolle gebracht. Vollständig unter Kontrolle.« Er lächelte und hielt seine Kaffeetasse und die Zigarette hoch. »Na ja, nicht ganz vollständig. Ich rauche immer noch und trinke zu viel Kaffee. Aber alles andere in meinem Leben unterliegt strengster Kontrolle. Ich habe gelernt, meine Zeit so einzuteilen, dass es in meinem Leben für den Alkohol keine Zeit mehr gibt. Und nie wieder geben wird.«
Er überlegte, ob er seine tägliche Kraftprobe erwähnen sollte – dass er jedes Mal, wenn er daran vorbeikam, genau eine Minute lang vor Rafterys Kneipe stand und hineinsah, eine Kampfansage an den Alkohol, ihn hineinzulocken –, entschied sich aber dagegen. Jemand anderes könnte das auch versuchen … und verlieren. Dafür wollte er nicht verantwortlich sein. Er fand, er hatte genug gesagt.
»Also das ist meine Geschichte. Ich bin jetzt seit zehn Jahren trocken. Ich bin wieder zur Uni gegangen, habe meinen Doktor gemacht, und jetzt tue ich genau das, was ich tun will. Ich bestimme wieder mein Leben – und das wird auch so bleiben. Danke, dass ihr zugehört habt.«
Als er sich unter Applaus wieder setzte, meinte er, im Korridor hinter sich eilige Schritte zu hören. Er hörte, wie die Tür oben zuschlug. Hatte jemand den Raum verlassen, als er gesprochen hatte? Er zuckte die Achseln. Es spielte keine Rolle. Er hatte seinen Part erzählt, seinen Teil getan. Das war alles, was zählte.
5.
Lisl brachte ihre Gefühle wieder unter Kontrolle, als sie die Straße überquerte. Evs Geschichte hatte sie schockiert und angerührt. Vor diesem Geständnis war er für sie kaum mehr als ein Bündel von Zwangsstörungen gewesen, ein Roboter. Jetzt war er eine Person, eine Person aus Fleisch und Blut mit einer Vergangenheit und einem schrecklichen Problem. Einem Problem, das er überwunden hatte. Er hatte seine Sucht besiegt, aber er prahlte nicht damit wie einige andere geläuterte Alkoholiker in der Fakultät. Das war Evs persönlicher Sieg, den er für sich behielt. Lisl war stolz auf ihn und plötzlich auch stolz, ihn zu kennen. Und wenn er seine Vergangenheit geheim halten wollte, dann war dieses Geheimnis bei ihr sicher.
Sie blieb auf dem Bürgersteig vor dem dunklen Hauseingang stehen.
»Gehen wir zurück zum Auto, Rafe.«
Er trat ins Licht hinaus und sah sie erwartungsvoll an.
»Nun?«
»Nun gar nichts. Es war eine Gebetsveranstaltung, das ist alles. Nur ein Haufen Leute, die herumsaßen und in der Bibel lasen und so was.«
Rafe starrte sie nur an. Sie schob ihren Arm in seinen Ellbogen und begann mit ihm den Weg zurückzugehen, auf dem sie gekommen waren. Seine Stimme war sehr leise, als er jetzt sprach.
»Du würdest mir doch keine Lüge erzählen, oder Lisl?«
»Und was wenn? Was macht das für einen Unterschied?«
»Primen sollten sich nicht anlügen. Ich bin dir gegenüber immer vollkommen ehrlich gewesen. Ich erwarte von dir das Gleiche.«
Toll. Jetzt war sie zwischen zwei Stühlen gefangen. Sie konnte entweder Evs Geheimnis verraten oder Rafes Vertrauen missbrauchen. Sie wünschte, sie wäre einfach zu Hause im Bett geblieben.
»Können wir das ganze Thema nicht einfach abhaken? Ich gebe dir recht mit deiner Behauptung, dass Ev kein Prim ist und dann belassen wir es dabei, ja?«
Rafe blieb stehen und wandte sich ihr zu. Sein durchdringendes Starren war ihr unangenehm.
»Du schützt ihn. Tu das nicht. Er gehört zu denen. Er ist deine fehlgeleitete Loyalität nicht wert. Er würde das auch nicht für dich tun.«
»Das weißt du doch gar nicht.«
Rafe seufzte. »Na gut. Ich helfe dir aus der Patsche, in die du dich selbst hineinmanövriert hast. Ich weiß, dass das ein Treffen der Anonymen Alkoholiker ist.«
Lisl war schockiert – und unglaublich wütend.
»Du weißt das? Du hast es die ganze Zeit gewusst?«
»Ich bin ihm vor ein paar Wochen hierher gefolgt.«
»Warum dann dieser ganze Humbug heute Abend?«
»Wenn ich dir vor einer Woche erzählt hätte, dass er Alkoholiker ist, hättest du es mir dann geglaubt?«
»Ja«, sagte sie augenblicklich, dann dachte sie darüber nach. »Nein. Ich schätze nicht.«
»Genau. Deswegen musstest du es selbst herausfinden. Jetzt hast du keinen Zweifel mehr daran, dass er zu denen und nicht zu uns gehört.«
»Im Gegenteil. Die Tatsache, dass er seine Sucht überwunden hat, ist doch der Beweis dafür, dass er
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