ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
dem Orangensaft stand auf der Spüle, daneben ein mit Fruchtfleisch beflecktes Glas. Lisl griff nach dem Karton. Ein leises Wimmern entrang sich ihr, als sie feststellte, wie leicht er war. In einem plötzlichen Anfall von Wut – auf Rafe, vor allem aber auf sich selbst – schleuderte sie den leeren Karton gegen die Wand, dann griff sie sich das Glas und machte damit das Gleiche. Der Karton prallte ab, das Glas zersplitterte.
Warum habe ich das getan?
Lisl sackte gegen den Kühlschrank und schloss die Augen, in Erwartung einer Antwort. Da war keine. Sie kniff die Lippen zusammen und richtete sich auf.
Na gut. Sie hatte Ev in diese Bredouille gebracht, also musste sie ihm da wieder heraushelfen. Dazu musste sie ihn jedoch zuerst finden. Das würde sie, und wenn sie dazu jede Kneipe in der Stadt abklapperte.
Lisl wandte sich zur Tür, blieb aber stehen, bevor sie sie erreichte. Und was, wenn Ev nicht in einer Kneipe war? Was, wenn er im Krankenhaus war?
Sie rannte zum Telefon und rief die Vermittlung des medizinischen Zentrums an, eine Nummer, die sie aus ihrer Zeit als Frau eines Internisten noch im Kopf hatte.
Nein, niemand namens Sanders war während der Nacht eingeliefert worden.
Sie seufzte erleichtert auf, fragte sich dann jedoch, ob es tatsächlich einen Grund zur Erleichterung gab. Wäre er im Krankenhaus, würde zumindest für ihn gesorgt. Wenn er aber bewusstlos irgendwo in einer dunklen Gasse lag …
Sie rannte hinaus, um die Kneipen in der Nähe zu durchkämmen.
Es entpuppte sich als mühselige Suche, und als sie nach einer Stunde erst drei Läden hinter sich und nichts erreicht hatte, wurde ihr klar, dass sie das nicht allein schaffen würde.
Sie brauchte Hilfe.
Aber wer? Rafe würde keinen Finger rühren, um Ev zu helfen. Im Gegenteil, er könnte sogar versuchen, ihr die Sache auszureden. Ihr fiel nur eine Person ein, auf die sie zählen konnte. Aber dazu müsste sie zugeben, was sie getan hatte. Wie konnte sie das Unerklärliche erklären?
Sie konnte niemandem gestehen, was sie getan hatte.
Lisl machte sich auf zur nächsten Kneipe. Allein.
4.
Ihm war übel.
Ev fühlte sich schrecklich. Sein Magen rebellierte genau wie sein Gemüt, als er sich an der Wohnungstür abstützte und den Schlüssel ins Schlüsselloch fummelte. Er wankte hinein und stolperte die paar Schritte zu seinem Sessel. Er ließ sich in die vertraute Bequemlichkeit sinken und schloss die Augen.
Ein Rückfall. Das war ihm schon früher passiert, aber das letzte Mal war so lange her, dass er sich eingebildet hatte, es würde nicht wieder vorkommen. Er presste die Fäuste gegen die Augen. Er wollte losbrüllen, wollte weinen, aber er würde das nicht zulassen. Was nützte das schon? Er würde sich nicht in Selbstmitleid oder Selbstbezichtigungen suhlen oder nach einem Sündenbock suchen. Diesen Weg hatte er schon früher beschritten und es war immer eine Sackgasse. Er musste etwas Positives darin sehen. Alles war ein Lernprozess. Er musste diesen Vorfall jetzt von der anderen Seite betrachten und versuchen, etwas daraus zu lernen.
Nun, die Lehre war offensichtlich, oder? Ein Säufer ist ein Säufer und egal, wie lange man trocken gewesen ist, man darf sich nicht zu sehr in Sicherheit wiegen. Der gestrige Tag war ein gutes Beispiel dafür, wie schnell man damit auf die Nase fallen kann.
Aber warum? Warum war es zu diesem Rückfall gekommen? Er hatte sich gestern den ganzen Tag merkwürdig gefühlt – es war doch gestern gewesen, oder? Natürlich war es das. Er hatte die Zeitung in dem Kasten an der Ecke gesehen. Es war Freitagnachmittag. Er sah auf seine Uhr: 16:16 Uhr. Er hatte fast einen kompletten Tag an den Alkohol verloren. Und das nicht zum ersten Mal.
Aber es ängstigte ihn, dass es so ganz ohne Vorwarnung gekommen war. Den ganzen Tag über dieses merkwürdige Gefühl, dann war er wie gewöhnlich nach Hause gekommen. Er hatte hier gesessen, Orangensaft getrunken, und als er den ausgetrunken hatte, war er losgegangen, um frischen zu kaufen. Aber er hatte es nicht bis in den Supermarkt geschafft. Als er an Rafterys vorbeikam, hatte er nur einen Sekundenbruchteil gezögert, dann war er hineingegangen und hatte einen Scotch bestellt.
Ohne Vorwarnung. Im einen Moment stand er noch draußen, im nächsten saß er an der Theke und trank.
Herr im Himmel, wie gut das geschmeckt hatte. Selbst jetzt noch lief ihm bei der Erinnerung daran das Wasser im Mund zusammen. Eine der wenigen Erinnerungen, die ihm an den Tag
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