ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
früher am Morgen nach Ev sehen wollen, aber seine Bürotür war verschlossen. Aber das war nicht ungewöhnlich. Sie wusste, er hatte am Freitag in aller Frühe Seminare.
Es war okay, wenn sie nach Ev suchte. Sie hatte einen Grund. Er schien gestern ein bisschen nervös, aber er verhielt sich vollkommen normal. Sie hatte wissen wollen, ob es ihm heute besser ging.
Aber niemand sonst sollte einen Grund haben, nach ihm zu suchen.
Außer …
»Nein«, sagte sie und wandte ihre Augen nicht vom Bildschirm ab. »Warum?«
»Er hat heute Morgen seine ersten beiden Seminare versäumt. Und er hat nicht angerufen, um sich zu entschuldigen. Das passt so gar nicht zu Ev.«
Oh nein, oh Gott, nein!
Lisl hatte plötzlich das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie versuchte etwas zu sagen, aber die Stimme versagte ihr.
Al redete weiter: »Die Verwaltung will wissen, ob irgendwer was von ihm gehört hat.«
Es gelang Lisl nur, den Kopf zu schütteln, aber sie konnte ihn nicht ansehen.
»Ist mir dir alles in Ordnung, Lisl?«
Sie wagte einen Blick zu ihm hin und würgte heraus: »Ich fühle mich heute nicht besonders.« Das war keine Lüge.
»Ja, so siehst du auch aus. Ich habe gehört, dass da so ein Virus umgeht. Ich wette, Ev hat sich den eingefangen. Vielleicht hat es dich auch erwischt. Auf jeden Fall – falls du etwas von ihm hörst, sag ihm, er soll in der Verwaltung anrufen.«
Als sie hörte, wie sich die Bürotür hinter ihr schloss, senkte Lisl das Gesicht auf die Hände und begann zu weinen.
Was habe ich getan?
Sie hatte den größten Teil der Nacht Gewissensbisse gehabt und nicht schlafen können. Sie hob den Telefonhörer ein Dutzend Mal ab, um Ev anzurufen, um ihm zu sagen, er solle sich von dem Orangensaft fernhalten, ihn einfach wegschütten. Einmal wählte sie sogar tatsächlich seine Nummer, legte aber beim ersten Klingeln schon wieder auf.
Wie könnte sie ihm das sagen? Wie könnte sie ihm sagen, dass sie es jemandem gestattet hatte, sich einen Abdruck seiner Schlüssel zu machen, die Ev ihr anvertraut hatte. Wie könnte sie ihm sagen, dass sie in seine Wohnung eingebrochen war und seinen Orangensaft mit Alkohol versetzt hatte. Wie sollte sie diese Worte über die Lippen bringen? Das war unvorstellbar.
Sie hatte sogar mit der Idee gespielt, ihn anzurufen und mit einem Taschentuch ihre Stimme zu verstellen, wie man das immer in Filmen sieht, aber sie war sich nicht sicher, ob das auch funktionierte.
Sie hatte vorgestern zwei Schlaftabletten gebraucht, um Schlaf zu finden, und sie brauchte gestern genauso viel und selbst dann musste sie sich noch mit dem Gedanken beruhigen, dass Ev, wenn er den gestrigen Tag überstanden hatte, ohne sich zu betrinken, die ganze Sache wohl mit fliegenden Fahnen überstehen würde. Dann könnte sie Rafe und dieser völlig blödsinnigen Idee von ihm eine lange Nase zeigen.
Rafe ... Warum hatte sie auf ihn gehört? Meistens fühlte sie sich mit ihm hervorragend, aber es gelang ihm auch immer wieder, sie dazu zu bringen, Dinge zu tun, bei denen sie sich richtig schlecht fühlte. Und er war so überzeugend. Alles schien ihr so klar, wenn er es ihr ins Ohr flüsterte. Erst später wünschte sie dann, sie hätte auf ihre eigene innere Stimme gehört. Sie wusste, er gab auf sie acht und setzte sich für sie ein, aber Rafe hielt sich nicht an die Grenzen, die die meisten Menschen bei ihren Handlungen beachteten. Rafe schien keine Grenzen zu kennen.
Und ich offenbar auch nicht.
Lisl hieb mit der Faust auf den Tisch. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass sie Ev den Alkohol in den Saft geschüttet hatte. Aber sie hatte es getan. Mit Absicht. Sehenden Auges, was für eine Gefahr das für den armen Mann darstellte. Was war nur in sie gefahren?
Aber wichtiger war jetzt: Wo war Ev?
Sie zog ihr Adressbuch aus der Schublade und suchte Evs Nummer heraus. Sie war sicher, die Fakultätssekretärin und die Leute in der Verwaltung hatten dort bereits angerufen, aber sie musste es selbst versuchen. Sie wählte und hörte zu, wie das Telefon am anderen Ende klingelte. Sie zählte nicht mit, aber es musste annährend zwanzigmal geklingelt haben, bevor sie auflegte.
Sie stand auf und war überrascht, wie wacklig ihre Beine waren. Was, wenn Ev letzte Nacht noch ausgegangen war und sich eine Flasche Wodka gekauft hatte? Vor ihrem inneren Auge sah sie ihn sturzbetrunken auf dem Boden seiner Küche liegen oder im Koma mit einer Alkoholvergiftung.
Sie musste zu ihm.
2.
Renny war sich
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