ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
verdiene es mir.«
Er lächelte traurig. »Verstehst du das nicht? Du hast es verdient. Indem du eine Prim bist. Wir schleppen sie huckepack mit uns herum. Unser Verstand, unsere Träume, unser Ehrgeiz heizt den Kesselwagen des Fortschritts an und zeigt ihnen den Weg. Ohne uns würden die immer noch Wurzeln über Dungfeuern vor ihren armseligen kleinen Hütten auskochen.«
Lisl griff nach hinten und löste den Verschluss der Halskette in ihrem Nacken. Sie entfernte die Ohrringe und streifte den Armreif ab.
»Das mag ja alles richtig sein, aber ich bringe die Sachen hier zurück. Ich kann sie nicht tragen.«
Und ich kann nicht mit dir zusammenbleiben.
Rafe streckte ihr seine Hand entgegen. »Wenn du erlaubst.«
Lisl zögerte, dann reichte sie ihm den Goldschmuck. Rafe drehte sich um und gab ihn der nächsten Frau, die an ihm vorbeiging.
»Fröhliche Weihnachten, Ma’am«, sagte er und drückte ihr die Sachen einfach in die Hand.
Die Geste schockierte Lisl. Das war kein simpler Diebstahl. Rafe wollte ihr etwas klarmachen. Als er ihre Hand nahm, entzog sie sie ihm nicht.
Sie gingen weiter und Lisl warf einen Blick zurück. Die Frau starrte hinter ihnen her, als seien sie verrückt. Sie blickte auf den Schmuck in ihrer Hand, dann warf sie alles in den nächsten Abfalleimer.
Lisl blieb stehen und zupfte an Rafes Ärmel.
»Das ist 18-Karat-Gold.«
Rafe zog sie weiter. »Sie hält das für Tand. So oder so, es ist glänzendes Metall. Nichts weiter.«
Lisl wandte der Frau und dem Abfalleimer den Rücken zu.
»Das ist alles so verrückt.«
»Aber auch aufregend.«
»Nicht aufregend – erschreckend.«
»Komm schon. Gib zu, dass dich das irgendwie auch erregt hat.«
Lisl spürte das adrenalininduzierte Prickeln in ihren Gliedmaßen, das hämmernde Pochen ihres Herzens. Auch wenn es ihr schwerfiel, das zuzugeben, es war aufregend gewesen.
»Aber ich fühle mich schuldig.«
»Das geht vorbei. Du bist eine Prim. Scham und Schuldgefühle – das hat in deinem Leben nichts zu suchen. Wenn du etwas tust, bei dem du dich schuldig fühlst, dann musst du es wieder und wieder tun. Zehn-, zwanzig-, dreißigmal, wenn es sein muss. Bis die Scham und die Schuldgefühle vergangen sind.«
»Und was dann?«
»Dann gehst du einen Schritt weiter. Du legst die Latte höher. Du wirst schon sehen.«
Lisl wurde kalt ums Herz.
»Werde ich das?«
»Sicher. Du wirst feststellen, dass es beim nächsten Mal einfacher ist.«
»Ich will nicht, dass es ein nächstes Mal gibt, Rafe.«
Er blieb stehen und starrte sie an. Sie befanden sich an einer Kreuzung. Die Leute strömten an ihnen vorbei, aber Lisl bemerkte sie kaum. Die Enttäuschung in Rafes Augen blendete alle anderen Wahrnehmungen aus.
»Das tun wir nicht meinetwegen, Lisl. Das ist für dich. Ich versuche dich von deinen Fesseln zu erlösen, dich zu befreien, damit du dich zu den Höhen deiner Möglichkeiten aufschwingen kannst. Du kannst nicht fliegen, wenn du die Fesseln nicht von dir abwirfst, mit denen die alle dich dein ganzes Leben lang auf dem Boden festgehalten haben. Willst du dich losreißen oder willst du das nicht?«
»Natürlich will ich das, aber …«
»Kein Aber. Willst du weiter hier unten angebunden sein oder willst du mit mir fliegen? Du hast die Wahl.«
Lisl sah, wie ernst es ihm war, und in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie diesen Mann verlieren konnte. Ja, er war jung, und ja, er hatte nur etwa halb so lange Zeit gehabt, Lebenserfahrung zu sammeln wie sie, aber sie konnte sich verdammt noch mal nicht erinnern, je zuvor so gut mit sich selbst und dem Leben im Allgemeinen ausgekommen zu sein. Sie fühlte sich wie eine vollständige Frau, ein intellektuelles und sexuelles Wesen, für das es keine Grenzen gab. Sie spürte eine gewisse Größe, die ihr winkte, sie musste nur noch der Einladung folgen.
Und all das verdankte sie Rafe. Ohne ihn wäre sie nur eine weitere verbitterte, unscheinbare Mathemaus.
Unscheinbar. Gott, wie sie dieses Wort verabscheute. Aber genau das war sie immer gewesen. Sie wusste es und war auch tapfer genug, es zuzugeben. Sie war vollkommen unscheinbar und sie hatte es so satt. Sie wollte nicht die sein, die sie war, und hier war Rafe, der ihr die Möglichkeit bot, jemand anderes zu sein. Wenn sie diese Möglichkeit nicht beim Schopf packte, was würde er dann tun? Würde er sich von ihr abwenden? Sie als hoffnungslosen Fall abtun?
Das würde sie nicht ertragen.
Aber es würde auch nicht passieren. Sie war fertig
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