ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
zurücksetzte.
»Der muss gewusst haben, dass ich komme«, sagte Rafe und setzte in die frei gewordene Lücke hinein. Dann wandte er sich wieder an Lisl: »Was ist mit dem endlosen Völkermord in Zaire? Was mit der täglichen Unterdrückung der weiblichen Hälfte der Bevölkerung in jedem fundamentalistischen, moslemisch geprägten Land?«
»Rafe, du redest von der anderen Seite der Welt.«
»Ich wusste nicht, dass Brüderlichkeit sich an Entfernungen misst.«
»Tut es auch nicht. Aber man beschäftigt sich einfach nicht tagein, tagaus mit diesen Dingen. Sie sind so weit weg. Und die Zahlen sind so ungeheuerlich, dass es einem nicht mehr real erscheint. So als wären das keine wirklichen Menschen.«
»Genau. Du hast sie nie gesehen, bist nie in ihrem Land gewesen, und was mit ihnen geschieht, ändert nichts an deinem Leben.« Er piekste sie sanft mit dem Zeigefinger in die Schulter. »Damit sitzt du auf einer Insel, Lisl. Vielleicht eine große Insel, aber immer noch eine Insel.«
»Das sehe ich nicht so. Sie haben mein Mitgefühl.«
»Nur, wenn sie dir jemand ins Gedächtnis ruft – und auch dann nur kurz.« Er ergriff ihre Hand. »Ich mache dir keine Vorwürfe, Lisl. Mir geht es genauso. Und wir unterscheiden uns da auch nicht von allen anderen. Wir alle brauchen einen gewissen Abstand zu dem, was unsere Mitmenschen sich gegenseitig antun.«
Lisl starrte aus dem Fenster. Er hatte ja so recht.
»Lass uns einkaufen gehen«, sagte sie.
Sie verschlossen den Wagen und steuerten auf Nordstroms zu. Rafe legte ihr den Arm um die Schultern.
»Gut. Bleiben wir in der näheren Umgebung. Sieh dich um. Diese Häuser da, die Blocks mit ihren vielen Wohnungen. Sie wirken friedlich, aber aus den Statistiken wissen wir, dass hinter diesen Wänden in einem bestimmten Maß Gewalt anzutreffen ist. Frauen werden verprügelt, Kinder missbraucht.«
»Aber ich kann doch statistischen Zahlen keine Gefühle entgegenbringen.«
»Was ist mit dem drei Monate alten Säugling, der heute Morgen in der Zeitung stand? Er ist gestorben, weil seine Mutter ihn in kochendem Wasser gebadet hat. Ich glaube, er hieß Freddy Clayton. Er ist mehr als nur eine Zahl in der Statistik. Stell dir mal vor, wie sich dieses Kind gefühlt haben muss, als die Person, auf die es vollkommen angewiesen war, ihn in das heiße Wasser getaucht und da festgehalten hat. Stell dir seine Qualen vor, als …«
»Es reicht, Rafe! Ich ertrage das nicht! Ich glaube, ich würde verrückt, wenn ich das auch nur versuchen würde.«
Sein Lächeln war verhalten. »Das Wasser um dein kleines Eiland herum wurde gerade viel breiter und tiefer.«
Lisl fühlte sich plötzlich niedergeschlagen.
»Warum tust du mir das an?«
»Ich versuche nur, deine Augen für die Wahrheit zu öffnen. Es ist nichts Falsches daran, eine Insel zu sein. Vor allem, wenn man eine Prim ist. Wir Primen auf unseren Inseln können autark sein, aber die anderen können das nicht. Deswegen diese ›Niemand ist eine Insel‹-Lüge. Wir sind der Ursprung jedweden menschlichen Fortschritts. Sie brauchen uns, damit sie über die Runden kommen. Falsch ist es nur, wenn du dir von ihnen einreden lässt, dass du sie brauchst.«
»Aber mit gefällt die Idee der Brüderlichkeit. Das ist doch keine Täuschung.«
»Natürlich ist es das. Du bist kulturell vorgeprägt, daran zu glauben. Die Nehmer, die Konsumenten, die wollen, dass jeder – vor allem wir Primen – dieses alle-Menschen-sind-eins-Märchen glauben. Das macht es ihnen erheblich leichter, aus uns den Nektar heraus zu saugen. Warum sollten sie sich die Mühe machen, von uns zu stehlen, wenn wir so einfältig sind, dass wir uns überzeugen lassen, ihnen unter dem Vorwand der gegenseitigen Verbundenheit alles freiwillig zu geben?«
Lisl starrte Rafe an. »Hast du dir eigentlich schon mal selbst zugehört? Ist dir klar, wie du dich anhörst?«
Er seufzte und senkte die Augen zum Bürgersteig, als sie den Eingang von Nordstroms erreichten.
»Ich kann es mir vorstellen: paranoid. Aber ich bin nicht verrückt, Lisl. Und ich sage auch nicht, dass wir die Opfer eines gewollten Plans sind. So einfach ist das nicht. Ich schätze, das ist eher so eine unterbewusste Sache, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat. Und sie hat sich aus einem Grund so lange gehalten und wirkt so einleuchtend: Weil es funktioniert. Wir produzieren weiter, damit die uns melken können.«
»Jetzt fängst du schon wieder an.«
Er hielt die Hände hoch. »Gut.
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