ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
mit ihrem unscheinbaren Dasein. Die neue Lisl Whitman hatte ihr Leben unter Kontrolle. Sie würde ihre Existenz bis auf den letzten Tropfen auskosten.
Aber sie wollte nicht stehlen. Und wenn Rafe noch so oft behauptete, die anderen Leute würden es ihr schulden, so war ihr der Gedanke an Stehlen doch absolut zuwider. Und egal wie oft sie das tat, sie wusste, sie würde sich dabei doch immer schuldig fühlen.
Aber sie konnte so tun, als würde sie mitmachen. Sie konnte vorgeben, sie hätte jedes Schuldgefühl und alle damit verbundenen Gewissensbisse überwunden, und dann würden sie damit wieder aufhören und sich geruhsameren, vernünftigeren Beschäftigungen zuwenden. Rafe war so radikal, so fanatisch, aber sie war sich sicher, das war alles seiner Jugend zuzuschreiben. Sie wusste, nach einiger Zeit würde sie ihn davon abbringen können.
Sie lächelte ihn an.
»Na gut. Ich bin bereit dazu, wann immer du willst. Wann drehen wir das nächste Ding?«
Er lachte und umarmte sie. »Jetzt. Ein paar Läden weiter. Lass uns gehen!«
»Ich kann es kaum erwarten!«, sagte sie und griff in ihre Handtasche, um ihre Nervosität zu verbergen. Sie zog einen Stapel Umschläge heraus.
»Was ist das?«
»Die Einladungen für die Weihnachtsfeier. Ich habe die letzten heute Morgen adressiert.«
Sie warf sie in den Briefkasten und schickte ein stilles Gebet gen Himmel, dass sie am Tag ihrer Feier nicht im Gefängnis sitzen möge.
3.
Everett Sanders stieg an seiner üblichen Haltestelle aus dem Bus und lief die dreieinhalb Blocks nach Hause. Auf dem Weg holte er seine fünf weißen kurzärmeligen Hemden – gefaltet, nicht gestärkt – von der Wäscherei ab. Er besaß zehn von diesen Hemden, davon hatte er immer fünf in Benutzung und fünf in der Reinigung. Er machte wie üblich Halt vor den Fenstern von Rafterys Kneipe und linste hinein auf die Leute, die da im Halbdunkel saßen und den Nachmittag und den Rest des Abends versoffen. Er beobachtete sie genau eine Minute lang, dann ging er weiter zum Kensington Arms, einem vierstöckigen Backsteingebäude aus den Zwanzigerjahren, das irgendwie den Restrukturierungsmaßnahmen der letzten Jahrzehnte entgangen war.
Bis er seine Wohnung im zweiten Stock erreichte, hatte er die heutige Post in der richtigen Reihenfolge sortiert: die Zeitschriften und Kataloge ganz unten, dann die Infopost und ganz oben die Briefe. Die Briefe waren immer oben. So gehörte sich das. Wenn der Briefträger sie doch auch so in den Kasten stecken würde.
Ev legte die Post auf einem ordentlichen Stapel da ab, wo er sie immer ablegte – auf dem Tisch neben seinem La-Z-Boy-Sessel –, dann ging er in seine Wohnküche. Die Wohnung war klein, aber er sah keine Notwendigkeit, sich eine geräumigere Bleibe zu suchen. Was sollte er mit einem zusätzlichen Zimmer? Da hätte er nur mehr zu putzen. Er hatte nie Gesellschaft, also wozu? Die praktische Einrichtung kam ihm sehr entgegen.
Er bemerkte einen kleinen Staubfleck auf der glänzenden Oberfläche des winzigen Esstischs, als er daran vorbeikam, und zog sein Taschentuch heraus, um ihn wegzuwischen. Dann sah er sich im Wohnbereich um. Alles war ordentlich, alles sauber und genau da, wo es sein sollte. Der Fernseher stand am Sofa und dem Sessel im Wohnzimmer, der Computermonitor stand dunkel und leblos auf dem Tisch im Essbereich. Die verputzten Wände waren nackt. Er sagte sich immer wieder, dass er da etwas aufhängen sollte, aber jedes Mal, wenn er sich Bilder ansah, fand er nichts, was ihm zusagte. Das einzige Bild in der Wohnung war das Foto seiner Exfrau auf seinem Nachttisch.
An der Arbeitsplatte maß Ev exakt eine halbe Tasse geröstete, ungesalzene Erdnüsse in einem Pappbecher ab. Damit ging er zu seinem Sessel zurück. Der Roman für diese Woche war Hawaii, eine dicke Schwarte. Er musste sich direkt nach dem Essen an seine heutige Quote machen. Er knabberte eine Weile an den Erdnüssen, dann begann er die Post zu öffnen. Natürlich die Briefe als Erstes.
Die Einladung zu Lisls Feier überraschte und entzückte ihn. Wie lieb von ihr, ihn in ihre Pläne einzubeziehen. Er war gerührt. Er mochte Lisl, und auch wenn ihre Absicht, selbst eine Arbeit für Palo Alto einzureichen, sie zu seiner direkten Konkurrentin für seine eigene Festanstellung machte, änderte das nichts an seinen Gefühlen für sie. Sie hatte jedes Recht, das zu tun. Und nach allem, was er in der Vergangenheit gemeistert hatte, hatte Everett bestimmt keine Angst vor einer
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