Angst
ihm die Hand hält und streichelt, während er weint. Er kann auf Befehl weinen, was mich schon als Kind angewidert hat.«
»Man muss ein Herz haben, um zu weinen, Chappy«, sagte Cynthia, deren Bosheit in der Stimme fast greifbar war.
Chappy überging die Bemerkung seiner Schwiegertochter und fragte Dix: »Wirst du Twister ins Gefängnis werfen?«
»Mal sehen.«
»Wenn ich glauben könnte, dass du es ernst meinst, würde ich ihm einen Anwalt verschaffen.« Chappy rieb die Hände aneinander. »Twister würde es dann auf einmal nicht mehr stören, eine Familie zu haben, die das nötige Kleingeld besitzt, oder? Was meinst du, Dix? Einen von diesen O.J.-Anwälten? Hmm, ich könnte mich ja schon mal informieren und es dann Twister auf die Nase binden.« Chappy schlenderte pfeifend aus dem Zimmer. Im Türrahmen drehte er sich um und winkte Ruth kurz zu. »Ich werde eine neue Vase aussuchen, vielleicht dieses Mal etwas Japanisches. Hey, Agentin Ruth, ich habe gehört, Twister hat Sie zum Abendessen eingeladen. Werden Sie hingehen?«
»Kommt auf das Restaurant an«, erwiderte Ruth leichthin.
»Tragen Sie Hosen«, riet ihr Chappy. »Das ist Ihre beste Verteidigung.« Er spazierte an den Scherben der Keramikschüssel vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
»Er ist verrückt«, sagte Cynthia. »Wirklich, Dix, der alte Narr ist völlig gestört. Er unterstellt mir, die Pille zu nehmen, wo Tony und ich doch versuchen, ein Baby zu bekommen! Oder die Idee, ich könnte mit Gordon schlafen. Hat sich Chappy seinen eigenen Sohn eigentlich mal angesehen? Tony ist doch sehr attraktiv, oder etwa nicht?«
»Attraktiv und schwach?«
»Ich hätte das nicht sagen dürfen, aber Chappy macht mich derart wütend, dass ich einfach irgendetwas sage, nur um es ihm heimzuzahlen. Der Grund, warum er Tony nicht gehen lässt, ist der, dass der sein einziges Ticket zur Unsterblichkeit ist, jetzt, wo Christie fort ist ...« Cynthia zuckte mit den Schultern und sah von Dix weg.
»Sie ist nicht einfach bloß fort, Cynthia, in dem Sinn, dass sie sich gerade selbst finden oder einen ausgedehnten Urlaub machen will. Sie ist tot. Und das weißt du!«
»Ja, wahrscheinlich ist sie das«, erwiderte Cynthia achselzuckend.
»Wie ich schon sagte, ihr zwei solltet aus diesem Haus und weit weg von Chappy ziehen.«
»Ich möchte aber nicht von Tara fort. Vielleicht gibt Chappy bald den Löffel ab, und dann wird Tony das alles hier erben.«
»Darauf würde ich nicht bauen. Ich gebe ihm noch zwanzig Jahre. Du und Tony solltet nach Richmond ziehen. Tony könnte die Bank dort leiten und für die hier in Maestro einen Geschäftsführer engagieren, den Chappy quälen kann. Sobald Chappy eines Tages von der Bildfläche verschwunden ist, könnt ihr ja wieder zurück nach Tara kommen, falls ihr das dann noch wollt.«
Cynthia schlenderte zu den Fenstern, die nach vorne zeigten, schob den schweren Brokatvorhang zur Seite und blickte hinaus. Kalte Luft strömte durch das Zimmer. Cynthia schloss das Fenster, während sie über die Schulter hinweg erklärte: »Tony fürchtet sich davor, fortzugehen und auf die Schnauze zu fallen, wenn er diesen Schritt tatsächlich wagen sollte. Außerdem hat er Angst, dass Chappy ihn enterben könnte.« Sie zuckte erneut mit den Schultern. »Christie hätte ihn dazu bringen können, von hier wegzu-ziehen, aber ich schaffe das nicht. Ich wünschte, sie wäre noch am Leben, Dix, ich vermisse sie wirklich.«
»Es hatte allerdings nie den Anschein, dass du sie besonders mochtest, als sie noch hier war, Cynthia. Woher der plötzliche Sinneswandel?«
»Wahrscheinlich bin ich heute klüger.« Cynthia drehte sich vom Fenster weg und durchschritt die gesamten acht Meter der Bibliothek, bevor sie sich wieder ihnen zuwandte. »Bleibt ihr zum Mittagessen? Mrs Goss hat mir gar nichts gesagt.«
»Nein, wir sind nicht zum Mittagessen hier. Zum einen wollte ich dir ein paar Fragen darüber stellen, was Chappy letzten Freitagabend gemacht hat.«
»Gütiger Himmel, da hast du doch Ruth gefunden, nicht wahr? Chappy war bis spätabends hier, mehr weiß ich nicht. Was hat er dir erzählt?«
»Dass er in seinem Büro gearbeitet hat«, sagte Dix. »Und wie steht’s mit Tony? Wo wer der?«
»Hat mich zu einer sehr glücklichen Frau gemacht, wenigstens nach zehn Uhr abends. Er war höchstwahrscheinlich wie üblich den ganzen Tag über in der Bank. Nach dem Abendessen war er noch einmal für ein paar Stunden fort. Er hat nicht gesagt, wo er hin
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