Angst
Gordon: »Denk nicht einmal im Traum dran, Ginger anzurufen, Gordon! Wenn du es trotzdem machst, gebe ich dir in deiner Zelle keine Extradecke.«
»Sheriff, Agentin Warnecki, was machen Sie denn hier?« Henry O war aufgesprungen, und die Frage war ihm genau in dem Moment herausgeplatzt, als Dix und Ruth ins Büro getreten waren. »Oh, ich verstehe. Sie wissen nicht mehr als bei Ihrem letzten Besuch, nicht wahr?«
Gut, dachte Dix, Gordon hatte also nicht angerufen. Henry O sah in seinem gestärkten weißen Hemd und den eleganten dunkelgrauen Wollhosen, die ihm weit über die Hüften gingen, sehr schick aus.
»Um ehrlich zu sein, Henry, sind wir hier, um Miss Stanford zu verhaften«, erklärte ihm Ruth. Sie winkte ihm kurz zu und ging mit Dix, der dicht hinter ihr war, an ihm vorbei.
»Sind Sie verrückt? Sie können doch keine Anwältin verhaften! Sie wird Sie bis aufs letzte Hemd verklagen. Warten Sie einen Augenblick! Oh, mein Gott, Miss Ginger, die beiden sind einfach an mir vorbeigestürmt!«
»Kaum zu glauben«, erwiderte Ginger Stanford, stand langsam auf und legte ihren stilvollen schwarzen Füller auf den Schreibtisch. »Es ist schon in Ordnung, Henry. Ihr werdet mir ja noch nicht gleich die Handschellen anlegen, oder etwa doch, Dix?«
Behutsam schob der Sheriff den älteren Mann aus dem Zimmer und schloss die Tür. »Guten Morgen, Ginger. Es ist an der Zeit, dass du uns von deiner kurzen, unbefriedigenden Affäre mit Gordon Holcombe erzählst.«
Ginger lachte. »Oh, setzt euch, ihr beide. Ihr habt es ihm also entlockt, nicht wahr? Ja, ich habe mit Gordon geschlafen, und das war ein riesiger Fehler. Nein, eigentlich nur Zeitverschwendung. Ich habe wirklich gedacht, er sei gut für mich. Ich kann euch nicht sagen, wie oft er mir diesen durchdringenden, begehrlichen Blick zugeworfen hatte, aber er entpuppte sich dann bloß als ungeschickter alter Mann. Ich hab’s ein paar Mal mit ihm probiert, danach habe ich ihm allerdings den Laufpass gegeben. Ende der Geschichte. Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass ich etwas mit diesen schrecklichen Morden zu tun haben könnte, oder?«
»Haben Sie Ihrer Mutter davon erzählt?«, wollte Ruth im Gegenzug wissen.
»Ja, das habe ich tatsächlich. Sie hat daraufhin nur gelacht und erklärt, dass sie ebenfalls einige Male mit ihm geschlafen hatte, und mir zugestimmt. Männer in einem gewissen Alter, hat sie gesagt, sind normalerweise nicht mehr besonders experimentierfreudig oder einfallsreich, sondern bereits vollauf zufrieden, wenn alles glattläuft. Gloria hatte ihre rosarote Brille längst abgelegt und war der Meinung, dass es nur sehr wenige Männer gäbe, die überhaupt eine Ahnung davon hätten. Die meisten würden sich gar keine Mühe geben und auf einen vorgespielten Orgasmus ihrer Partnerin hoffen, damit sie ihre Ruhe haben. Das Einzige, was sie von Gordon bekommen habe, sei ein guter Tipp für die Interpretation von Bartoks Sonate für Violine solo gewesen, sagte Gloria.« Ginger lachte.
»Warum nennen Sie Ihre Mutter Gloria?«, wollte Ruth wissen.
»Wie bitte? Ach so, Gloria. Nun, die Sache ist die, meine
Mutter war praktisch meine gesamte Kindheit hindurch nicht da. Sie war immer auf Tournee, müssen Sie wissen. Mein Vater hat sich aus dem Staub gemacht, als ich zehn war; er konnte es nicht ertragen, dass seine Frau ständig fort war; und mit mir kam er auch nicht zurecht. Ich wurde von zwei Kindermädchen großgezogen, die ich bis heute beide Mom nenne. Sie war stets Gloria. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe und bewundere sie, und sie ist meine Mutter. Schließlich hat sie mich zur Welt gebracht.«
»Weshalb sind Sie ihr nach Maestro gefolgt? Wann war das? Sechs Monate, nachdem Christie und Dix hierhergezogen sind?«
Sie legte den Kopf schief und blickte Ruth an. Dann goss sie etwas Wasser aus einer San-Pellegrino-Flasche in ein Kristallglas und trank einen Schluck. »Christie und ich sind zusammen zur Schule gegangen. Wir standen uns sehr nahe.«
»Aber du hattest eine ganz hübsche Kanzlei in New York City, oder?«, warf Dix ein.
»Du bist ein hartnäckiger Bursche, Dix«, sagte Ginger nach kurzem Zögern. »Also gut, es gab da einen Mann in New York. Es hat nicht geklappt. Ja, er war verheiratet, und ich war so naiv, ihm zu glauben, als er mir schwor, dass seine Ehe am Ende sei. Er hat mich einfach zum Narren gehalten. Ich dachte, wenn ich weit genug wegzöge, würde alles besser werden - und das wurde es auch, zu einem Gutteil
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