Angst
betrachtete, genau wie ein Cop einen Tatverdächtigen taxieren würde. Dabei strich sie sich das Haar hinters Ohr, eine Angewohnheit, die er schon des Öfteren an ihr bemerkt hatte. Im nächsten Moment fiel die Haarsträhne allerdings wieder zurück. Dichtes, dunkles Haar, das leicht gewellt war. Dix bemerkte, dass Tony Ruth mit seinem für ihn typischen durchdringenden Blick fixierte, um dann auch seinen Schwager frustriert zu mustern. »Dad hat mich gebeten, hier vorbeizuschauen und euch zum Mittagessen einzuladen. Er hat gesagt, ihr hättet zum Dinner keine Zeit, da die anderen zwei FBI-Agenten abends wieder zurück sein würden.«
»Woher weiß Ihr Vater davon?«, fragte Ruth. Ohne nachzudenken nahm sie einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht.
»Dad hat heute Morgen mit Rafer gesprochen, hat ihn abgefangen, kurz bevor er zur Schule ging. Der hat ihm erzählt, dass Agent Savich und Agentin Sherlock wegen eines Falls mit einem FBI-Bell-Helikopter nach Philadelphia fliegen. Er wusste nicht, worum es ging, hat aber gesagt, sie seien zum Abendessen wieder zurück.«
Dix schnaubte. Er musste unbedingt mit seinen beiden Söhnen reden und fragte sich, ob einer von ihnen überhaupt wusste, was »Diskretion« bedeutete. Es war unerlässlich, dass er sich einmal ausführlich mit ihnen über das Thema Verschwiegenheit unterhielt.
»Warum sind sie eigentlich so plötzlich nach Philadelphia aufgebrochen?«
»Das ist eine Angelegenheit des FBI, Tony«, erklärte Ruth. »Ich würde gerne mit Ihrem Vater zu Mittag essen. Werden Sie und Ihre Frau ebenfalls kommen? Sie könnte mir alles über Erin Bushnell und ihre schwesterliche Freundschaft erzählen.«
Tony Holcombes Augen verdunkelten sich, da er Sarkasmus witterte, doch da Ruths Miene unbeweglich blieb, nickte er schließlich und stellte seine Tasse auf Dix’ Schreib-tisch. »Ich muss jetzt in die Bank.« Dann streifte er seine weichen, schwarzen Lederhandschuhe über.
»Wie läuft das Bankgeschäft, Tony?«
Tony Holcombe zuckte mit den Achseln, während er die Bürotür öffnete. »Die Dinge laufen ganz gut, aber du kennst ja meinen Vater - er würde es niemals zugeben, sondern klagt ständig, alles würde den Bach runtergehen, seitdem ich die Bank leite.«
Sie hörten, wie er Deputys auf seinem Weg hinaus grüßte.
»Er scheint ganz nett zu sein«, sagte Ruth. »Ich würde allerdings nicht gerne in seiner Haut stecken.«
»Tony stand schon immer in Chappys Schatten«, erwiderte Dix. »Ich an Tonys Stelle hätte die Gegend schon vor langer Zeit verlassen, hätte mir so weit weg von Chappy wie möglich ein eigenes Leben aufgebaut. Und jetzt würde ich mich gerne mit Ginger Stanford, Glorias Tochter, unterhalten, um herauszufinden, was sie über Erin Bushnell zu sagen hat. Bis jetzt ist Erin eine geliebte, talentierte >Schwester< für meine Schwägerin Cynthia, und glauben Sie mir, das ist gleichermaßen erschreckend wie unvorstellbar.«
Ginger Stanford besaß ein vierstöckiges, georgianisches Haus aus roten Ziegelsteinen, das zwischen Angelos Pizzeria und dem Kurzwarengeschäft Classic Threads lag. Auf ihrem kurzen Fußweg dorthin schien jeder Einwohner der Stadt mit dem Sheriff sprechen und Ruth mustern zu wollen, als hätte eine FBI-Agentin einen zusätzlichen Arm oder zwei Köpfe. Dix brachte viel Geduld auf, ohne dabei jedoch Informationen preiszugeben, und leistete bei der Geheimhaltung ihrer Angelegenheiten weitaus bessere Arbeit als seine Söhne.
Gingers Sekretär war ein ziemlich alter Mann, der hinter einem riesigen Mahagonischreibtisch kauerte. Auf einer hölzernen Namensplakette, die sich mitten auf dem Schreibtisch befand, war HENRY O zu lesen.
»Sheriff«, krächzte der Mann, nickte Ruth zu und sah wieder auf seinen Computerbildschirm. »Ich habe hier ein echtes Rätsel zu lösen. Fünf Wörter, und jedes Wort beinhaltet wiederum drei verschiedene Wörter. Sie wissen schon, wie >klein<.«
»Ich glaube nicht, dass >lein< als Wort durchgeht, Henry. Wir sind hier, um Ginger zu sehen. Könnten Sie ihr bitte Bescheid geben?«
»Sie haben recht. Verflixt! Miss Ginger setzt gerade das Testament des alten Mr Scrooge auf.«
»Ich habe noch nie gehört, dass jemand tatsächlich Scrooge heißt«, sagte Ruth.
Henry O stand langsam auf. Er trug ein gestärktes weißes Hemd und elegante schwarze Hosen, die knapp unterhalb der Brust mit einem Gürtel zusammengezurrt waren. »So nenne nur ich ihn, Miss. Eigentlich handelt es sich um Amos McQueen, der sogar
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