Angst
Selbsterhaltung. Es muss den jungen Frauen im Laufe der Jahre auch geholfen haben, dass er als Rektor der Stanislaus einen großen Einfluss auf ihre berufliche Zukunft hatte. Ich bin überrascht, dass andere Leute an der Schule nichts von Dr. Holcombes Vorlieben wussten. Ansonsten hätte es doch sicherlich Klatsch gegeben, vielleicht böses Blut unter den Studenten, die sich nicht behaupten konnten, oder sogar Spannung im Kollegenkreis -man hätte sein Verhalten unpassend finden können.«
»Helen meint tatsächlich, dass niemand außer den jeweiligen Mädchen von der Sache wusste«, erklärte Ruth. »Jedenfalls sind ihr niemals Gerüchte zu Ohren gekommen.«
Savich schüttelte den Kopf. »Das ist kaum zu glauben. Sobald mehr als zwei Menschen von etwas Verbotenem wissen, insbesondere von etwas derart Pikantem, kommt es für gewöhnlich ans Tageslicht.«
»Helen hat uns erzählt, dass sie ihm selbst dabei geholfen hat, seine Privatsphäre zu schützen«, sagte Ruth. »Was so viel bedeutet wie >hat ihm dabei geholfen, sein schmutziges kleines Geheimnis zu vertuschen<.«
»Er lebt allein«, sagte Dix. »Und ich weiß, dass er seit vielen Jahren ein Haus außerhalb der Stadt besitzt, das er in ein Studio umgebaut hat. Vielleicht war er dort mit ihnen zusammen. Und noch etwas: Wenn Chappy Wind von der Sache bekommen hätte, wüsste jede Menschenseele im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern davon.
Und so, wie Chappy es erzählen würde, hätte sein Bruder keine Chance, weiterhin an der Stanislaus zu bleiben. Es ist möglich, dass einige der Studenten oder Professoren davon wussten, aber niemand außerhalb der Schule.«
»Er muss ein ungemein gewandter Süßholzraspler sein«, meinte Sherlock. »Ich hoffe, dass es den anderen Mädchen gut geht.«
»Ja«, erwiderte Dix, »darüber haben wir uns auch schon Gedanken gemacht. Wir haben bereits zwei von ihnen aufgestöbert, und sie sind in Ordnung. Sobald wir den Rest der Liste erhalten, werden wir sie alle ausfindig machen.«
»Wir haben Helen gebeten, mit niemandem über unser Gespräch zu reden, vor allem nicht mit Dr. Holcombe«, sagte Ruth. »Außerdem haben wir sie gefragt, was er am Freitag getan und wann er Erin das letzte Mal gesehen hat. Daraufhin sind ihr beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen - ihr ist aufgegangen, wir könnten ihn für den Mörder von Erin Bushnell halten. Sie begann herumzustammeln und wiederholte ständig, dass er bestimmt keine derartig kranken Neigungen hätte. Der liebe Dr. Holcombe wäre nicht einmal imstande, auf die Klaviertasten zu hämmern, geschweige denn jemanden zu verletzen, und schon gar keine Studentin der Stanislaus. Davon war sie felsenfest überzeugt. Sie sagte, sie würde uns das alles nur erzählen, weil sie die Polizei nicht belügen wolle und es wahrscheinlich besser für Dr. Holcombe sei, wenn es sofort herauskäme. Sie wusste, dass er uns am Montag nichts von seiner Beziehung zu Erin gesagt hat. Es sei ihm vermutlich deswegen gar nicht in den Sinn gekommen, weil er so bestürzt war. Dann hat sie wieder mit diesem albernen Gerede angefangen, dass Dr. Holcombes geliebte Studenten überall auf der Welt spielen und Schönheit und Völkerverständigung vermitteln, ja sogar etwas für den Weltfrieden tun.«
»Ist sie nicht ganz dicht?«, fragte Sherlock.
»Ich denke, dass sie vollkommen blind ist, wenn es um Onkel Gordon geht«, erwiderte Dix. »Sie sagte, dass er nichts mehr zu sich genommen hat, seit er das mit Erin weiß. Er habe aufgehört zu komponieren und auf seinen Instrumenten zu spielen, sei in sich gekehrt und außerstande, sich mit seiner Umwelt oder seiner Arbeit zu beschäftigen. Sie empfindet tiefstes Mitleid mit ihm. Was den Freitag angeht, so behauptet Helen, er habe den ganzen Nachmittag Gespräche mit seinen Studenten geführt und kein einziges Mal den Campus verlassen. Sie sagte das mit einem triumphierenden Blick, da sie ihm damit ein Alibi gegeben hat. Aber sagt sie tatsächlich die Wahrheit?« Dix zuckte mit den Achseln.
»Was hat Dr. Holcombe geantwortet, als Sie ihn gefragt haben, wo er zum fraglichen Zeitpunkt war?«, wollte Sherlock wissen.
»Wir konnten ihn heute noch nicht vernehmen«, sagte Dix. »Helen hatte ihn überredet, einer Probe beizuwohnen, die er angesetzt hatte. Wir werden morgen früh mit ihm und ein weiteres Mal mit Helen sprechen.« Dix drehte sich zu Ruth um und fragte unvermittelt: »Ruth, wie geht es Ihnen? Haben Sie Kopfschmerzen?«
Sie blinzelte rasch und lächelte
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