Angst - Kilborn, J: Angst - Afraid
weil er nur ein Kind war.
Er stand auf und tastete nach dem Lichtschalter im Flur. Aber wieder passierte nichts. Also drückte er auf den Knopf seiner Armbanduhr, und ein blaues Licht leuchtete auf. Es war hell genug, um den Mann sehen zu können, der im Flur stand, Woofs Halsband in der Hand hielt und hechelte.
Josh VanCamp eilte durch den düsteren Wald und wedelte mit der Taschenlampe vor sich hin und her wie ein Blinder mit seinem Stock. Auf diese Weise konnte er rechtzeitig umgefallenen Bäumen oder herabhängenden Ästen ausweichen. Josh vermochte sich das Geschehene nicht zu erklären, aber ihm war instinktiv klar, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmen konnte.
Plötzlich blieb er mit dem Fuß im Dickicht stecken. Er hielt inne, um sich wieder zu befreien und neu zu orientieren. Es waren nicht einmal hundert Meter von der Stelle, wo der Helikopter abgestürzt war, bis zu Sal Mortons Haus, aber es ging verdammt schnell, sich im Wald zu verlaufen - insbesondere nachts. Er schob eine Hand in die Hosentasche und zog seinen Kompass heraus. Dann schlug er eine östliche Richtung ein, zur Gold Star Road.
In Safe Haven gab es keine Notfälle. Selbst wenn die Einwohnerzahl während der Sommermonate um das Dreifache anschwoll, hatte Josh höchstens eine Handvoll Einsätze in der Woche. Und die waren gewöhnlich auf einige übereifrige Camper zurückzuführen, die riesige Feuergruben gegraben hatten, welche die Sicherheitsbestimmungen überschritten. Oder es handelte sich um normale Such- und Rettungseinsätze von Teenagern, die sich im Wald versteckt hatten, um dem anderen Geschlecht einen heimlichen Besuch abzustatten. Obwohl Josh Feuerwehrmann geworden war, weil er ein inneres Bedürfnis verspürte, Leben zu retten, hatte er in Safe Haven noch nie die Gelegenheit dazu bekommen.
Er kämpfte sich durch eine Gruppe Birken mit Stämmen, die nicht dicker als ein menschliches Handgelenk waren, und merkte, wie sich seine Gedanken unweigerlich Annie zuwandten - wie das öfter der Fall war. Er brauchte keine Trauerbewältigungstherapie, um zu wissen, dass sie der wahre Grund für seine Berufswahl war. Schon bald würde er Safe Haven verlassen und nach Madison oder in die Twin Cities ziehen, wo Feuerwehrmänner wirklich ihr Leben riskierten, um andere zu retten und etwas wirklich Gutes zu tun.
Während seiner Urlaubstage besuchte er einen Kurs für Rettungssanitäter im nahe gelegenen Shell Lake. Nächstes Jahr wollte er seine Sanitäter-Prüfung ablegen. Josh war sich nicht
sicher, ob es bei Trauer so etwas wie eine Verjährungsfrist gab. Aber falls sie existieren sollte, dauerte seine genau vier Jahre, drei Monate und elf Tage. Er hatte Annie etwas versprochen, aber jetzt war es an der Zeit, nach vorn zu blicken.
Josh hatte die sandige Gold Star Road erreicht und wandte sich in Richtung Süden, als er den Schrei hörte. Die Mortons waren um diese Jahreszeit die einzigen Menschen weit und breit in der Gegend, und der Schrei kam aus der Richtung ihres Hauses. Josh sprintete los. Obwohl sich die Nacht jetzt richtig abgekühlt hatte, brach ihm der Schweiß auf der Stirn, im Nacken und an den Unterarmen aus. Der Sand sog seine Schuhe an, und er verlor beinahe das Gleichgewicht, als er über einen Haufen Holz neben Sal Mortons Briefkasten sprang.
Josh rannte weiter bis an den Zaun, als das Schreien abrupt aufhörte. Er rang nach Luft und formte dann mit seinen Händen einen Trichter.
»Hallo!«
Keine Antwort.
Josh überlegte, wer da so laut geschrien haben könnte und warum. Es war zweifelsohne ein Schmerzensschrei gewesen. War dieser Jemand jetzt bewusstlos? Oder gestorben?
Er sah, dass die Haustür offen stand, was ihm gar nicht gefiel. Hastig eilte er darauf zu und steckte seinen Kopf durch den Spalt. Drinnen herrschten Dunkelheit und völlige Stille.
»Hallo? Ich bin es - Josh VanCamp von der Feuerwehr. Braucht jemand Hilfe?«
Der Lichtschalter funktionierte nicht. Er trat ein und leuchtete den Raum mit seiner Taschenlampe aus. Leer. Er war zu Sals sechzigstem Geburtstag schon einmal hier gewesen und konnte sich noch ungefähr an den Grundriss des Hauses erinnern. Er ging in die Waschküche hinüber, fand den Sicherungskasten
und sah, dass er offen stand. Die Hauptsicherung war ausgeschaltet worden. Er drückte darauf, aber nichts passierte. Das war nichts Außergewöhnliches; im Norden von Wisconsin gehörten Stromausfälle zur Tagesordnung.
Die Stille folgte ihm in die Küche und die Treppe
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