Angst - Kilborn, J: Angst - Afraid
hinwies, musste sie zur Strafe eine Zeit lang in der Ecke stehen.
»Er kommt schon noch«, murmelte Jessie Lee, ohne die ältere Frau anzusehen.
»Ist es nicht unglaublich aufregend? Eigentlich sollten wir alle auf Bürgermeister Durlock sauer sein, weil er die öffentlichen Gelder dafür benutzt hat, Powerball-Tickets zu kaufen. Aber es ist doch herrlich, dass er den Gewinn mit der gesamten Bevölkerung teilen will! Was hast du mit deinen vierzigtausend Dollar vor?«
»Achtzigtausend«, verbesserte Jessie Lee sie. »Nach der Hochzeit.«
»Selbstverständlich. Ich bin mir sicher, dass die Hochzeitsfeier jetzt noch viel spektakulärer wird.«
Genau das nahm Jessie Lee auch an. Manchmal kam es ihr vor, als ob sie seit ihrer Geburt von diesem Tag in ihrem Leben geträumt hatte. Obwohl Erwin kein reicher Mann war, hatte er doch unermüdlich geschuftet, um ihr all das zu ermöglichen, was sie wollte. Das war einer der Gründe, warum sie ihn so liebte. Sie trug jetzt Brillantohrringe, eine goldene Omega-Kette mit einem dazu passenden Fußkettchen und war die einzige Frau in Safe Haven, die eine Gucci-Handtasche
ihr Eigen nennen konnte. Erwin behandelte sie wie seine Prinzessin.
Und trotzdem - das bisher fehlende Geld hatte sie davon abgehalten, einige ihrer extravaganteren Pläne zu realisieren. Doch mit dem Lotteriegewinn konnte sie sich jetzt alles leisten. Ihre Träume würden endlich wahr werden. Es würde zur Hochzeit Eisskulpturen geben und ein Orchester und ein Bankett mit sieben Gängen und ein exklusives Designerkleid statt dem Billigteil, das sie im Einkaufszentrum gesehen hatte. Über ihre Hochzeit würde ganz Safe Haven noch Jahre später reden.
»Würde der Nächste bitte zu mir kommen, um seinen Gewinn abzuholen?«, forderte der Lotteriebeauftragte die Menge über die Lautsprecher auf. Er war groß gewachsen, hatte etwas verwegen Attraktives an sich und trug eine schwarze Uniform. Bürgermeister Durlock saß neben ihm und blickte leicht betrübt drein, was angesichts der freudigen Nachricht merkwürdig war. Jessie Lee konnte sich allerdings vorstellen, dass er nicht gerade bester Dinge war. Schließlich musste er das Geld mit sämtlichen Einwohnern Safe Havens teilen. An seiner Stelle hätte sie sich die Kugel gegeben.
»Melody Montague.«
Mrs. Montague quietschte entzückt und klatschte in die Hände. Wie bei den anderen hatte auch ihr weder die späte Stunde noch die lange Wartezeit die Laune getrübt. Sie eilte zum Podium, schüttelte dem Lotteriebeauftragten die Hand und wurde dann von ihm aus der Sporthalle in die Ankleidekabine für die Jungen eskortiert.
Einige Sekunden vergingen, und ein weiteres, noch lauteres Quietschen entkam Mrs. Montagues Mund. Die Leute auf den Stühlen lachten heiter und fuhren dann mit ihren Unterhaltungen fort.
Jessie Lee warf einen Blick auf ihre Uhr und sah sich dann
um. Beinahe ganz Safe Haven war zu dieser überstürzten Generalversammlung erschienen. In kleinen Städten verbreiteten sich schlechte Nachrichten wie Trommelfeuer, gute aber noch wesentlich schneller. Der erste Anruf des Bürgermeisters an seine Sekretärin war innerhalb kürzester Zeit mit lawinenartiger Geschwindigkeit weitergeleitet worden. Nach bereits einer Viertelstunde hatte die ganze Stadt Bescheid gewusst. Noch immer trafen Leute ein, die vom Schatzmeister von Safe Haven - der kaum mehr Raum einnahm als ein Strich in der Landschaft - über den sie erwartenden Scheck in Kenntnis gesetzt wurden. Dann fügte er ihre Namen der Liste hinzu. Niemanden schien es zu stören, dass es kurz vor eins mitten in der Nacht war. Wohin Jessie Lee auch blickte, sie sah nur fröhliche, ausgelassene Mienen.
Wo aber steckte Erwin?
Jessie Lee hatte bereits vor einiger Zeit ihren Arbeitgeber Merv in der Menge entdeckt. Seine Glatze glänzte derart im Licht der Scheinwerfer, dass sie ihn nicht übersehen konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Die gesamte Stadt - auch jeder in Jessie Lees Haus - hatte die letzten Stunden ohne Strom auskommen müssen. Nur die Schule verfügte über zwei riesige Gasgeneratoren. Jessie Lee stand auf und bahnte sich einen Weg zu Merv, indem sie zwei Stufen hinab und eine Reihe Stühle entlangging, bis sie ihm die Hand auf die riesige Schulter legen konnte.
»Merv, du bist doch kurz vor mir gekommen, oder?«, fragte sie.
Merv zuckte mit den Achseln, was seine drei Kinne zum Wabbeln brachte. »Keine Ahnung. Hab nicht aufgepasst. Findest du Corvettes eigentlich sexy?«
»Extrem
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