Angst - Kilborn, J: Angst - Afraid
kurz, sie liegen zu lassen, gestand sich dann aber ein, keine Ahnung zu haben, wie lange er hier im Wald festsitzen würde. Also schob er sie in seine Jacke - zusammen mit einem Fernglas, dessen Linse beschädigt war. Auf der Oberseite befand sich ein noch intakter Kompass. Stubin konnte sein Glück kaum fassen.
Er peilte Norden an, wobei er versuchte, sich die Karte der Umgebung zu vergegenwärtigen, die er kurz zuvor im Helikopter eingesehen hatte. Seinen Berechnungen nach musste er sich östlich von Safe Haven befinden. Er pfiff erneut nach Mathison, erhielt keine Antwort und machte sich dann Richtung Westen auf. Richtung Stadt.
Kaum hatte Taylor einen Blick nach oben geworfen, kroch Jessie Lee weiter. Sie riss sich die Knie an den Latten auf, und die Mausefalle quetschte noch immer ihre Finger. Dennoch bewegte sie sich so rasch wie möglich vorwärts und konnte dabei
das Gleichgewicht halten. Nachdem sie sich zwei Körperlängen von ihrem Platz entfernt hatte, hielt sie den Atem an und lauschte gespannt nach irgendetwas anderem als dem Pochen ihres eigenen Herzens.
Nichts.
Er wird mich nicht erschießen, dachte sie. Das wäre zu laut. Schließlich wollte er die Leute in der Sporthalle nicht misstrauisch machen. Aber er besaß einen Elektroschocker, und Jessie Lees Situation war die eines in die Ecke gedrängten Wilds. Sie musste so rasch wie möglich weg von hier.
Ein Geräusch. Direkt unter ihr. Das unverkennbare Klappern eines Spinds, der geöffnet wurde.
Vorsichtig entledigte sie sich der Mausefalle und versuchte vorwärts zu krabbeln. Doch das ging nicht. Sie hatte eine Wand erreicht. Sich umzudrehen, während man auf fünf Zentimeter breiten Latten balancierte, würde länger dauern, als sie sich leisten konnte. Sie hörte, wie Taylor auf den Spind stieg. Jeden Augenblick würde er die Deckenfliese beiseiteschieben und seinen Taser auf sie richten.
Es war doch besser, wieder zurückzukrabbeln. Sie konnte zwar in der Dunkelheit nichts sehen, aber die Latten befanden sich in regelmäßigen Abständen zueinander, so dass sie zumindest erahnen konnte, wohin sie ihr Gewicht verlagern musste. Sie kroch so schnell sie konnte zurück in Richtung des Mädchen-Umkleideraums.
Vor ihr wurde es auf einmal hell. Wo gerade noch eine Kachel gelegen hatte, drang jetzt Licht herauf. Sie blinzelte Taylor an, der keinen Meter von ihr entfernt war und seinen Kopf durch die Decke steckte. Würde er sie in der Dunkelheit sehen?
Anscheinend schon, denn er starrte sie an, und sein Gesicht wurde von einem eiskalten Lächeln entstellt.
»Ich mag die Kratzbürstigen am liebsten. Maura Talbott war
auch so lebhaft. Das war mein sechstes Mädchen, in Madison. Ich habe sie mit Draht gefesselt und ihr einen Finger nach dem anderen abgebissen.«
Jessie Lee erinnerte sich an das Fernseh-Special. Sie hatten die Autopsiefotos gezeigt, nachdem die obligatorische Kinderwarnung erschienen war. Die Finger waren nicht das Einzige gewesen, was Taylor abgenagt hatte.
Jetzt beeilte sie sich wirklich. Ihre Füße hasteten weiter rückwärts, und ab und zu trat sie nicht auf eine Latte, sondern direkt auf eine Kachel. Sie stieß sich den Ellenbogen an - denselben -, und dann blieb das goldene Omega-Fußkettchen, das ihr Erwin geschenkt hatte, irgendwo hängen. Wahrscheinlich an einem der Drähte, die die Kacheln hielten. Sie versuchte sich zu befreien, schaffte es aber nicht. Er hielt sie fest wie eine Kralle.
Vor ihr sah sie, wie sich Taylor auf die Latten hievte und auf den Knopf des Tasers drückte - vermutlich um ihr zu zeigen, was ihr bevorstand. Ein weißer Blitz knisterte zwischen den zwei Elektroden.
Jessie Lee drückte mit ihrem freien Fuß gegen den Draht. Ohne Erfolg. Sie kroch zurück und winkelte das gefangene Bein an. Dann rutschte sie mit der Hand aus und stürzte mit der Hüfte zwischen zwei Latten. Sie brach durch die Decke, und der Rest ihres Oberkörpers folgte.
Sie schrie auf und fuchtelte mit den Händen durch die Luft. Für einen unwirklichen Moment fiel sie mit dem Kopf voraus Richtung Jungen-Umkleideboden. Aber ihr Bein hing noch immer fest. Statt zu fallen baumelte sie bis zu den Knien von der Decke - wie ein Affe im Dschungel.
Sie schwang vor und zurück. Die hellen Lichter und das Blut, das ihr in den Kopf schoss, verwirrten sie. Es dauerte eine Weile, ehe die Welt aufhörte, sich zu drehen und Jessie Lee um
sich blicken konnte. Als sie jedoch erkannte, was unter ihr lag, setzte ihr Herzschlag einen
Weitere Kostenlose Bücher