Angst sei dein Begleiter: Thriller (German Edition)
ein Stockwerk tiefer gekommen war, war sein dringender Wunsch, sie kennenzulernen, nicht zu übersehen gewesen.
Sie schlug die erste Seite auf und beobachtete sein Mienenspiel. Er hatte ein ausdrucksvolles Gesicht, auf dem man auf Anhieb erkennen konnte, was in seinem Inneren vorging. Als er die Skizzen betrachtete, trat ein Ausdruck von Staunen auf seine Züge.
»Wow, du bist echt gut.« Er schlug die nächste Seite auf, dann noch eine und noch eine. »Du bist mindestens so gut wie diese Leute in Project Runway. «
Sie sah ihn fragend an. »Project Runway?«
»Stimmt ja – du siehst nicht fern. Das ist eine Reality-Show, in der mehrere Designer um die Chance kämpfen, ihre Kollektion in New York vorzuführen. Mom sieht sich die Sendung regelmäßig an. Ich selbst zeichne auch. Ich will Künstler werden, wenn ich erwachsen bin, aber Mom sagt, ich brauche etwas als Basis, weil es so viele hungernde Künstler auf der Welt gibt. Dad meint aber, wenn ich nächstes Jahr noch interessiert bin, kann ich Kunstunterricht nehmen.«
Er hielt inne und atmete tief durch. »Ich rede zu viel, wie?«
Sie lachte. »Nein, überhaupt nicht. Wie wär’s, wenn ich uns Popcorn mache? Wir setzen uns aufs Sofa und unterhalten uns vorm Schlafengehen noch ein bisschen.«
»Cool, ich liebe Popcorn.«
Cool war offenbar sein Lieblingswort. Es war komisch – jahrelang hatte sie sich eingeredet, sie hätte nicht das geringste Interesse, irgendetwas über Charlie oder seine Mutter zu erfahren, aber jetzt, da er bei ihr war, mit diesen Augen, die ihren so ähnlich waren, und seinem jungenhaften Eifer, alles über sie zu erfahren, stellte sie fest, dass sie mehr über ihn wissen wollte.
»Bist du ein guter Schüler, Charlie?«, fragte sie, als sie, eine Schüssel Popcorn zwischen sich, auf dem Sofa saßen.
»Ich bin guter Durchschnitt. Mom sagt, ich könnte viel besser sein, und Dad sagt, ich wäre ein typischer Junge. Ich möchte wetten, du warst eine richtig gute Schülerin. Dad sagt, du bist hochintelligent.«
»Ich war gut in der Schule, weil ich wusste, dass meine Mutter böse werden würde, wenn ich etwas anderes als Einser und Zweier nach Hause brachte«, antwortete sie.
»So streng war sie?«
Annalise nickte. »Ja, sie war streng.«
Sie blieben bis kurz vor elf auf dem Sofa sitzen. Charlie füllte den Raum mit seiner Energie und erzählte von seinen Eltern und von seiner Kunst, seinen besten Freunden und von allem, was einem Dreizehnjährigen wichtig war.
Er stellte ihr Fragen zu ihren Puppen, wollte wissen, wie sie gefertigt wurden und wer was im Produktionsprozess zu tun hatte. Seine Neugier auf sie und ihr Leben kannte keine Grenzen, doch gegen dreiundzwanzig Uhr brach sie ihr kleines Zusammensein ab.
»Ich möchte jetzt schlafen gehen«, sagte sie, ging zum Wäscheschrank und entnahm ihm eine Bettwäschegarnitur. »Im Bad unter dem Waschbecken findest du eine neue Zahnbürste. Nimm sie und putz dir die Zähne, bevor du zu Bett gehst.«
Als er im Bad verschwand, richtete sie ihm ein Bett auf dem Sofa und legte ein Kopfkissen aus ihrem eigenen Bett für ihn bereit. Als Charlie aus dem Bad zurückkam, war sein Bett fertig. Er schlüpfte unter die Decke, zog dort seine Jeans aus und legte sie neben das Sofa auf den Boden.
»Gute Nacht, Charlie«, sagte Annalise.
»Nacht, Annalise.«
Sie schaltete das Deckenlicht aus und ließ nur das trübe Licht des Lämpchens an ihrem Bett brennen, dann ging sie ins Bad, um ihr Gesicht zu reinigen und in ihren Pyjama zu schlüpfen. Minuten später stieg sie hinauf zu ihrem Bett und schaltete das Licht aus. »Annalise?«, drang Charlies Stimme durch die Dunkelheit an ihr Ohr.
»Ja?«
»Vielen Dank, dass ich bleiben darf.«
»Kein Problem«, antwortete sie.
»Ich freu mich, dass du meine große Schwester bist.«
Die Worte wärmten ihr Herz auf schmerzlich süße Weise. »Und ich freue mich, dich als kleinen Bruder zu haben«, sagte sie. Offenbar war er bereits eingeschlafen, denn Minuten später hörte sie ihn leise schnarchen.
Doch Annalise fand keinen Schlaf, während sie versuchte, all die Gefühle zu verarbeiten, die Charlies plötzliches Auftauchen wachgerufen hatte.
Es war unmöglich, ihn mit seinem offenen, großzügigen Wesen nicht zu lieben. Obwohl sie nie Teil seines Lebens gewesen war, war sie bereit und willens, ihm ihr Herz zu schenken.
Und was sie dabei am meisten überraschte, war die Tatsache, dass sie sein Herz erobern wollte. Sie wollte seine große Schwester
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