Angst sei dein Begleiter: Thriller (German Edition)
hier? Wie war er ins Haus gekommen?
»Befinden Sie sich in Gefahr?«, fragte die Telefonistin.
»Nein. Es ist alles in Ordnung. Es war ein Irrtum. Entschuldigen Sie bitte.« Die Telefonistin legte auf, und Annalise tat es ihr nach.
Während sie ihren Halbbruder, den sie nie kennengelernt hatte, anstarrte, fielen ihr gleich mehrere Dinge auf. Zwar war er wie ein typischer Teenager in ausgebeulte Jeans und eine übergroße Jacke gekleidet, doch die Ähnlichkeit zwischen ihm und ihr war trotzdem festzustellen.
Sie hatten beide dunkles Haar, doch seines war kurz geschnitten. Seine Augen waren von dem gleichen strahlenden Blau wie ihre und blickten sie in diesem Augenblick sehr nervös an.
»Was tust du hier?«, fragte sie ihn.
Er zuckte mit den Schultern, hob seinen Rucksack vom Boden auf und kam näher. »Ich fand, wir sollten uns mal kennenlernen. Wirklich, es ist doch bescheuert, eine Schwester zu haben und nicht zu wissen, wer sie ist.«
»Wissen deine Mutter und dein Vater, wo du steckst?«
Er zögerte kurz. »Eigentlich nicht.«
Er lächelte, und es war ein hinreißendes Lächeln, ein Lächeln, mit dem er eines Tages Herzen brechen würde. »Wir sehen uns ähnlich, findest du nicht? Nur, dass du hübscher bist als ich.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste nicht, was sie empfinden sollte. Ihr war schon immer klar gewesen, dass sie Charlie eines Tages kennenlernen würde. Doch sie hatte geglaubt, dass sie selbst den Zeitpunkt und die Bedingungen bestimmen würde. Auf das hier und auf ihn war sie nicht vorbereitet.
»Wir müssen rauf in die Wohnung gehen und Dad anrufen.«
Sein Lächeln erlosch. »Aber zuerst können wir uns doch ein bisschen unterhalten, oder? Ich meine, vielleicht könnten wir eine Cola trinken oder etwas essen und dann erst anrufen.«
Sehnsucht. Sie spürte seine Sehnsucht. Das Bedürfnis, mit ihr eine Verbindung aufzubauen. Es überraschte sie, und es rührte tief in ihrem Inneren etwas an, von dessen Existenz sie bisher nichts gewusst hatte.
»Klar, wir werden etwas essen und dann rufen wir an«, stimmte sie zu.
Sein Lächeln kehrte zurück und erhellte seine Züge, als er sich an ihrer Seite in Bewegung setzte. »Das Haus ist toll«, sagte er, als sie die Treppe zum Loft hinaufstiegen.
»Wie bist du hereingekommen?«, fragte sie.
»Heute Nachmittag war ich im Laden, und als die Frau an der Kasse einmal nicht hinsah, bin ich die Treppe hinaufgeschlichen. Ich war vorhin schon oben im zweiten Stock, denn Dad hat mir erzählt, dass du dort wohnst, aber ich habe mich nicht getraut, an die Tür zu klopfen.«
Sie öffnete die Wohnungstür, und er trat ein. »Wow! Das ist ja krass. Wusste ich doch, dass du eine coole Wohnung hast.« Mit leuchtenden Augen drehte er sich zu ihr um. »Ich habe dich ein paarmal im Fernsehen gesehen, weißt du, die Werbung für deine Puppen. Ich habe Dad immer wieder gefragt, wann ich dich kennenlernen würde, aber er hat mich ständig vertröstet.«
»Setz dich doch an den Tisch. Ich sehe mal nach, was ich dir zu essen anbieten kann«, schlug sie vor.
Er nickte und durchquerte mit seinem schlaksigen Gang das Zimmer, wobei seine großen Füße in den klobigen Turnschuhen alles umzustürzen drohten, was ihnen in die Quere kam. Als er sich an den Tisch setzte, öffnete Annalise den Kühlschrank und prüfte seinen Inhalt.
Bis jetzt war Charlie stets nur als abstrakte Gestalt in ihrem Bewusstsein vorhanden gewesen, als Teil vom Leben ihres Vaters, der nichts mit ihr zu tun hatte. Jetzt hockte dieser Teil an ihrem Küchentisch, und sie hatte keine Ahnung, warum. Was wollte er von ihr?
»Ich wusste genau, dass du es locker nimmst, wenn ich einfach so aus dem Nichts bei dir aufkreuze«, sagte er.
Sie war nicht cool. Sie stand unter Schock. Sie entnahm dem Kühlschrank eine Schüssel mit einem Rest Käsemakkaroni und schob sie in den Mikrowellenofen, dann nahm sie eine Dose Limo und stellte sie vor ihn auf den Tisch.
»Also, willst du mir ein paar Fragen stellen?« Er sah sie voller Eifer an, wie ein Hündchen, das hinter den Ohren gekrault werden wollte.
»Fragen?«
»Ja, klar, was für ein Typ ich bin, zum Beispiel. Was ich mag und was nicht. So was in der Art.«
Sie nahm die Käsemakkaroni aus der Mikrowelle, stellte die Schüssel vor ihn hin, legte eine Gabel dazu und setzte sich zu ihm an den Tisch. Seine Anwesenheit schien noch immer nicht endgültig in ihr Bewusstsein gedrungen zu sein.
Vor Jahren hatte sie sich über seine bloße
Weitere Kostenlose Bücher