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Angst

Angst

Titel: Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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von seinem Kopf entfernt sein konnte. Das Stemmeisen konnte jeden Augenblick brechen oder wegrutschen. Doch dann hörte er, wie das Getriebe des Aufzugs umschaltete. Ein jaulendes Geräusch setzte ein, die Spannung des Stemmeisens ließ nach, und die Kabine begann zu steigen, glitt immer schneller durch die erhabene Säule aus Glas nach oben und ließ mit jedem Stockwerk weitere Strahlen hellen Lichts in den Schacht ein.
    Hoffmann rappelte sich auf, rammte das Stemmeisen wieder zwischen die Türblätter und drückte sie einen Spalt breit auseinander. Der Aufzug war an seinem höchsten Punkt angelangt und blieb stehen. Er hörte ein Scheppern, dann begann die Kabine wieder zu sinken. Er steckte seine Finger in die schmale Öffnung zwischen den Türblättern. Breitbeinig stand er da und versuchte, das Loch zu vergrößern. Seine Muskeln spannten sich, er warf den Kopf zurück und brüllte vor Anstrengung. Die Tür gab leicht nach, dann glitten die beiden Türblätter plötzlich zur Seite. Ein Schatten fiel auf seinen Rücken, der Maschinenlärm schwoll an, und ein scharfer Luftzug strich über ihn hinweg, als er sich über die Kante des Schachts auf den Betonboden der Tiefgarage zog.

    Leclerc war in seinem Büro im Genfer Polizeipräsidium und wollte gerade Feierabend machen, als ihn ein Anruf erreichte. In einem Hotel in der Rue de Berne habe man eine Leiche gefunden. Der Beschreibung nach – hageres Gesicht, Pferdeschwanz, Ledermantel – tippte er sofort auf den Mann, der Hoffmann überfallen hatte. Die Todesursache sei Strangulierung, ob es sich um Mord oder Selbstmord handele, sei noch nicht klar. Das Opfer sei ein Deutscher: Johannes Karp, 58 Jahre alt. Zum zweiten Mal an diesem Tag rief Leclerc seine Frau an, um ihr mitzuteilen, dass es später werden würde. Dann ließ er sich in einem Streifenwagen durch den abendlichen Stoßverkehr auf die nördliche Seite des Flusses fahren.
    Er war jetzt seit fast zwanzig Stunden im Dienst und so müde wie ein alter Hund. Allerdings weckte die Aussicht auf einen verdächtigen Todesfall immer wieder seine Lebensgeister. Solche Fälle waren in Genf mit acht pro Jahr recht selten. Mit Blaulicht und heulender Sirene raste der Streifenwagen großkotzig über den Boulevard Carl-Vogt und weiter über die Brücke, wechselte auf der Rue de Sous-Terre in die linke Spur und zwang den Gegenverkehr zu abenteuerlichen Ausweichmanövern. Während Leclerc auf dem Rücksitz durchgeschüttelt wurde, rief er im Büro des Polizeichefs an und hinterließ die Nachricht, dass der Verdächtige im Hoffmann-Fall tot aufgefunden worden sei.
    Vor dem Hotel Diodati in der Rue de Berne herrschte fast Karnevalsatmosphäre – die Blaulichter von vier Streifenwagen flackerten grell unter dem bedeckten Himmel des frühen Abends; auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte sich eine stattliche Menschenmenge versammelt, darunter einige schwarze Huren in knapper, farbenprächtiger Kleidung, die mit den Anwohnern scherzten; im Wind flatternde schwarz-gelbe Absperrbänder hielten die Zuschauer vom Tatort fern. Gelegentlich leuchtete ein Kamerablitz auf. Sie waren wie Fans, die auf einen Rockstar warteten, dachte Leclerc, als er aus dem Wagen stieg. Ein Gendarm hob das Absperrband an, und Leclerc duckte sich darunter hindurch. Als junger Polizist war er in dieser Gegend auf Streife gegangen und hatte die Mädchen, die hier arbeiteten, alle mit Namen gekannt. Einige von denen waren jetzt sicher Großmütter, dachte er. Wenn er es genau bedachte, waren schon damals ein oder zwei von ihnen Großmütter gewesen.
    Er ging ins Diodati. In den Achtzigerjahren hatte das Hotel anders geheißen, wie, wusste er nicht mehr. Die Gäste warteten alle in der Lobby, man würde sie erst gehen lassen, wenn sie ihre Aussage gemacht hatten. Einige davon waren offensichtlich Prostituierte, und dann gab es elegant gekleidete Herren, die missmutig und betreten in die Gegend schauten, ihre Kunden, die es eigentlich hätten besser wissen müssen. Der winzige Lift machte keinen vertrauenerweckenden Eindruck auf Leclerc. Er nahm die Treppe, wobei er in jedem der leeren Stockwerke kurz stehen blieb, um zu verschnaufen. In dem Gang vor dem Zimmer, in dem man die Leiche gefunden hatte, wimmelte es von uniformierten Polizisten. Er musste sich einen weißen Overall und weiße Gummihandschuhe anziehen und durchsichtige Plastiküberzieher über die Schuhe streifen. Die weiße Haube verweigerte er. Er sah wie ein gottverdammtes weißes

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