Angst
auf den Boden und schaute zögernd über den Rand. Der Boden war nicht zu sehen, erst recht nicht, ob dort etwas lag. Etwas tropfte ihm in den Nacken. Er berührte die Stelle mit dem Finger und spürte eine zähe Flüssigkeit. Er verrenkte den Hals, schaute nach oben und sah die Unterseite der Liftkabine, die nur ein Stockwerk über ihnen stand. Von der Unterseite baumelte etwas herunter. Er zog schnell den Kopf zurück.
Gabrielle hatte fertig gepackt und das Gepäck in die Halle gebracht: einen großen Koffer, einen kleineren und eine Reisetasche – weniger als für einen Komplettauszug, aber mehr als für einen Wochenendausflug. Der letzte Flug nach London ging um 21:25 Uhr. Wegen der Bombe auf dem Vista-Airways-Flug wies die Website von British Airways auf verschärfte Sicherheitsmaßnahmen hin: Wenn sie den Flug noch schaffen wollte, musste sie jetzt gleich fahren. Sie saß in ihrem Atelier und schrieb Alex eine Nachricht, auf die altmodische Weise, mit Stahlfeder und Tusche auf reinweißem Papier.
Als Erstes schrieb sie, dass sie ihn liebe und nicht für immer verlassen wolle. »Vielleicht wäre Dir das ja lieber.« Sie brauche nur eine Auszeit von Genf. Sie sei am CERN gewesen und habe mit Bob Walton gesprochen. »Sei nicht sauer, er ist ein guter Mensch, er macht sich Sorgen um Dich.« Das Gespräch habe ihr sehr geholfen, weil sie zum ersten Mal wirklich verstanden habe, welch außergewöhnliche Arbeit er leiste und welch gewaltiger Druck auf ihm laste.
Es tue ihr leid, dass sie ihm die Schuld für das Fiasko bei der Ausstellung gegeben habe. Wenn er immer noch darauf beharre, dass nicht er es gewesen sei, der alle Ausstellungsobjekte aufgekauft habe, dann werde sie ihm natürlich glauben. »Aber bist Du Dir wirklich ganz sicher, mein Liebling, denn wer sollte sie sonst gekauft haben?« Vielleicht habe er ja gerade wieder einen Zusammenbruch erlitten. Wenn das der Fall sei, wolle sie alles tun, um ihm zu helfen. Was sie nicht wolle, sei, dass ihr als Erster ausgerechnet ein Polizist von seinen Problemen in der Vergangenheit erzähle. »Wenn wir zusammenbleiben wollen, dann müssen wir ehrlicher miteinander sein.« Damals habe sie in der Schweiz nur für ein paar Monate jobben wollen, sei dann aber irgendwie hängen geblieben und habe ihr gesamtes Leben nach ihm ausgerichtet. Vielleicht wäre vieles anders gelaufen, wenn sie Kinder gehabt hätten. Wenn ihr die Ereignisse von heute etwas klargemacht hätten, dann eines: Für sie sei Arbeit, und sei sie auch noch so kreativ, kein Ersatz für das Leben, während es für ihn anscheinend genau das sei.
Womit sie zum wichtigsten Punkt komme. Laut Walton habe er sein Leben dem Versuch gewidmet, eine Maschine zu entwickeln, die unabhängig vom Menschen denken, lernen und handeln könne. Sie halte diesen Gedanken seinem Wesen nach für zutiefst erschreckend, auch wenn Walton ihr versichert habe, dass seine Absichten vollkommen ehrenwert gewesen seien. »Davon bin ich überzeugt, weil ich Dich kenne.« Aber bedeute die Entscheidung, ein derart ehrgeiziges Ziel gänzlich in den Dienst des Geldverdienens zu stellen, nicht eine Vermählung des Heiligen mit dem Profanen? Kein Wunder, dass er begonnen habe, sich so merkwürdig zu verhalten. Allein der Gedanke, eine Milliarde Dollar zu wollen, geschweige denn zu besitzen, sei ihrer Meinung nach Wahnsinn, und es habe einmal eine Zeit gegeben, da habe auch er diese Meinung geteilt. Wenn ein Mensch etwas erfinde, was jeder brauche – okay, schön und gut. Aber etwas einfach durch Glücksspiel er reichen zu wollen (sie habe nie genau verstanden, was seine Firma eigentlich mache, aber das scheine es im Kern zu sein), sei Gier, und die sei schlimmer als Wahnsinn, das sei verachtenswert, daraus könne nie etwas Gutes entstehen. Und das sei der Grund, warum sie aus Genf verschwinden müsse, bevor diese Stadt und ihre Werte sie auffressen würden …
Sie schrieb und schrieb und vergaß darüber die Zeit. Die Feder glitt über das handgeschöpfte Papier und bedeckte es mit ihrer ziselierten Handschrift. Es wurde dunkler im Wintergarten. Auf dem See begannen sich die Lichter der Stadt zu spiegeln. Der Gedanke, dass sich Alex mit seiner Kopfverletzung irgendwo da draußen herumtrieb, nagte an ihr.
Es ist ein schreckliches Gefühl, die Stadt zu verlassen, während Du krank bist. Aber wenn Du Dir nicht von mir helfen und Dich auch nicht anständig untersuchen lassen willst, warum soll ich dann bleiben? Wenn Du mich brauchst, ruf
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