Angst
seine Schritte und steuerte zielstrebig ein Regal mit Benzinkanistern an: rotes Metall, gute Qualität, 35 Franken das Stück. Auf den Zeitrafferbildern wirkten seine Bewegungen abgehackt, wie die einer Marionette. Er kaufte fünf Kanister und zahlte bar. Die Kamera über der Kasse zeigte deutlich seine Kopfverletzung. Der Bursche an der Kasse beschrieb ihn später als sehr aufgeregt. Gesicht und Kleidung seien blut- und ölverschmiert gewesen, in den Haaren habe er getrocknetes Blut gesehen.
Verkrampft lächelnd fragte Hoffmann: »Warum reißen die überall die Straßen auf?«
»Das geht schon seit Monaten so, Monsieur. Die verlegen Glasfaserkabel.«
Hoffmann musste zweimal gehen, um die Kanister zur nächstgelegenen Zapfsäule zu tragen. Nacheinander füllte er alle fünf mit Benzin. Er war der einzige Kunde. So allein unter den Neonröhren fühlte er sich grässlich ungeschützt. Er sah, dass der Bursche an der Kasse ihn beobachtete. Die Luft vibrierte, als der nächste Jet direkt über der Tankstelle hereinkam. Er hatte das Gefühl, als würde sein Körper bis ins Innerste erzittern. Als er den letzten Kanister gefüllt hatte, öffnete er die Hintertür und schob einen nach dem anderen auf den Rücksitz. Er ging zurück in den Laden, zahlte 160 Franken für das Benzin und dann noch 25 für eine Taschenlampe, zwei Feuerzeuge und drei Putzlappen. Wieder zahlte er bar. Er verließ den Laden, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Leclerc schaute sich kurz die Leiche an, die auf dem Boden des Aufzugschachts lag. Es gab nicht viel zu sehen. Der Anblick erinnerte ihn an einen Selbstmord am Bahnhof Cornavin, den er einmal bearbeitet hatte. Solche Leichen ließen ihn kalt. Der Anblick von unversehrten Leichen, die einen anschauten, als müssten sie eigentlich noch atmen können, ging ihm wirklich unter die Haut: Die Augen schienen ihn immer vorwurfsvoll anzuschauen. Wo warst du, als ich dich brauchte?
In der Tiefgarage sprach er kurz mit dem österreichischen Geschäftsmann, dem man das Auto gestohlen hatte. Der Mann war außer sich und schien Leclerc dafür verant wortlich zu machen, mehr als den Dieb. »Ich zahle hier mei ne Steuern, ich erwarte, dass die Polizei mich beschützt.« Und so weiter und so weiter. Leclerc blieb nichts anderes übrig, als höflich zuzuhören. Das Kennzeichen und die Beschreibung des Wagens waren mit höchster Dringlichkeits stufe an jeden Polizisten in Genf weitergegeben worden. Das gesamte Gebäude wurde durchsucht und evakuiert. Die Kriminaltechniker waren auf dem Weg. Madame Hoffmann wurde von ihrem Haus in Cologny zur Befragung ins Polizeipräsidium gebracht. Das Büro des Polizeichefs war informiert worden: Der Chef selbst hielt sich bei einem offiziellen Abendessen in Zürich auf, was die Arbeit erleichterte. Leclerc wusste nicht, was er sonst noch tun konnte.
Zum zweiten Mal an diesem Abend stieg Leclerc mehrere Treppen hinauf. Ihm war schwindelig vor Anstrengung. Er spürte ein Kribbeln im linken Arm. Er musste sich untersuchen lassen: Seine Frau lag ihm deshalb schon lange in den Ohren. Er fragte sich, ob Hoffmann nicht nur den Deutschen im Hotel, sondern auch seinen Kollegen umgebracht hatte. Auf den ersten Blick hielt er das nicht für wahrscheinlich: Der Sicherheitsmechanismus des Aufzugs hatte ganz einfach gestreikt. Andererseits war es schon ein bemerkenswerter Zufall, dass sich ein und derselbe Mann innerhalb von zwei Stunden am Ort von zwei unterschiedlichen Todesfällen aufhielt.
Als er im fünften Stock ankam, blieb er kurz stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Vor dem offenen Eingang zu den Räumen des Hedgefonds hatte ein junger Gendarm Position bezogen. Im Vorbeigehen nickte Leclerc ihm zu. Im Handelsraum herrschte nicht einfach nur Erschütterung – nach dem Tod eines Kollegen hatte er nichts anderes erwartet –, sondern fast Hysterie. Die zuvor stummen Mitarbeiter standen in Gruppen zusammen und sprachen aufgeregt miteinander. Der Engländer, Quarry, rannte ihn fast über den Haufen. Die Zahlen auf den Bildschirmen veränderten sich ständig.
»Irgendwas Neues über Alex?«, fragte Quarry.
»Anscheinend hat er einen Mann aus seinem Wagen gezerrt und ist damit abgehauen. Wir suchen ihn gerade.«
»Das ist wirklich nicht zu …«
Leclerc fiel Quarry ins Wort. »Entschuldigung, Monsi eur, würden Sie mir Doktor Hoffmanns Büro zeigen?«
Quarrys Gesicht nahm sofort einen verschlagenen Ausdruck an. »Ich weiß nicht recht. Vielleicht sollte ich erst unseren Anwalt
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