Angst
hast.«
Er hatte das Gefühl, als bliebe ihm die Luft weg – als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. »Warum muss er das CERN in die Sache reinziehen? Und Nervenzusammenbruch würde ich es auch nicht nennen.«
»Wie würdest du es denn nennen?«
»Müssen wir gerade jetzt darüber sprechen?« Ihr Gesichtsausdruck sagte ja. Er fragte sich, wie viele Gläser Champagner sie schon getrunken hatte. »Also gut, wenn es sein muss. Ich hatte Depressionen, ich habe mir eine Auszeit genommen, ich war bei einem Psychiater, ich bin wieder auf die Beine gekommen.«
»Du warst bei einem Psychiater? Weil du Depressionen hattest? Und du hast mir in acht Jahren nie ein Wort gesagt?«
Ein Paar drehte sich um und schaute sie an.
»Sei nicht albern«, sagte er gereizt. »Du machst aus einer Mücke einen Elefanten. Herrgott, da haben wir uns noch gar nicht gekannt.« Und dann, etwas sanfter: »Jetzt komm schon, Gabby, willst du dir deine Party verderben?«
Einen Augenblick lang glaubte er, sie würde einen Streit anfangen. Sie schaute ihn mit erhobenem Kinn an. Wenn sie das tat, standen die Zeichen auf Sturm. Ihre Augen waren glasig und blutunterlaufen. Auch sie, fiel ihm ein, hatte in letzter Zeit nicht viel geschlafen. Doch dann klopfte jemand mit Metall auf Glas.
»Meine Damen und Herren«, rief Bertrand. Er hielt ein Champagnerglas hoch und schlug mit einer Gabel dagegen. »Meine Damen und Herren!« Die Wirkung war erstaunlich. In dem überfüllten Raum verstummten alle Gespräche. Bertrand stellte das Glas ab. »Keine Sorge, meine Freunde. Ich werde jetzt keine Rede halten. Außerdem, unter Künstlern sagen Symbole mehr als Worte.«
Er hielt etwas in der Hand. Hoffmann konnte nicht erkennen, was es war. Bertrand ging zu Gabrielles Selbstporträt – das, bei dem ihr Mund zum stummen Schrei geformt war –, zupfte einen roten Punkt von der Bandrolle, die er in der Hand verborgen gehalten hatte, und drückte es fest auf das Schild an dem Objekt. Erfreutes, wissendes Gemurmel breitete sich in der Galerie aus.
»Gabrielle«, sagte er und schaute sie lächelnd an. »Ich darf dir gratulieren. Du bist jetzt ganz offiziell eine professionelle Künstlerin.«
Die Gäste applaudierten und hoben ihre Champagnergläser. Man sah Gabrielle an, dass alle Spannung von ihr abfiel. Sie sah wie verwandelt aus. Hoffmann nutzte die Gelegenheit, nahm ihre Hand und hielt sie in die Höhe, als wäre sie ein Boxchampion. Immer wieder ertönten Bravorufe. Wieder leuchtete das Blitzlicht auf, aber diesmal brachte Hoffmann ein dauerhaftes Lächeln zustande. »Gut gemacht, Gabby«, flüsterte er ihr aus dem Mundwinkel zu. »Das hast du dir verdient.«
Sie lächelte ihn glücklich an. »Danke.« Sie brachte einen Toast aus. »Ich danke Ihnen allen. Und ganz besonders dem unbekannten Käufer.«
»Warte, ich bin noch nicht fertig«, sagte Bertrand.
Neben dem Selbstporträt stand ein Objekt mit dem Kopf eines Sibirischen Tigers, der ein Jahr zuvor im Zoo in Servion gestorben war. Gabrielle hatte den Körper tiefkühlen lassen, bis sie in einem MRT -Scanner Schnittbilder von dem abgetrennten Schädel hatte machen können. Der Glasstich wurde von unten mit blutrotem Licht angestrahlt. Bertrand klebte auch daran einen roten Punkt. Es war für 4500 Franken verkauft worden.
»Wenn das so weitergeht, dann machst du bald mehr Geld als ich«, flüsterte Hoffmann.
»Alex, hör endlich auf, immer nur über Geld zu reden.« Trotzdem war sie angetan, das konnte Hoffmann sehen. Und als Bertrand zum Herzstück der Ausstellung ging, The Invisible Man , und auch dort einen roten Punkt anbrachte, klatschte sie vor Freude in die Hände.
Wenn er nur da aufgehört hätte, dachte Hoffmann hinterher bitter, dann wäre das ganze Ereignis ein Triumph gewesen. Warum hatte Bertrand das nicht erkannt? Warum hatte er nicht über seine kurzfristige Gier hinausdenken und es dabei belassen können? Stattdessen arbeitete er sich systematisch durch die gesamte Galerie und ließ in seinem Kielwasser eine krätzige Spur aus roten Punkten zurück: an den Pferdeköpfen, dem mumifizierten Kind aus dem Ethno logischen Museum in Berlin, dem Bisonschädel, dem Antilopenkitz, der Handvoll Selbstporträts und schließlich auch an dem Fötus – Pocken, Pestbeulen und Pusteln, die epidemisch über die weiß getünchten Wände herfielen. Er hörte nicht auf, bis sie alle als verkauft gekennzeichnet waren.
Die Wirkung auf die Besucher war eigenartig. Zuerst wurde noch
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