Angst
Hoffmanns Brustkorb. Hoffmann schrie vor Schmerz auf, der Stuhl kippte nach hinten, und Karp stürzte sich auf ihn. Das Messer glänzte im fahlen Licht. Mehr instinktiv als bewusst packte Hoffmann mit seiner Linken, der schwächeren Hand, das Handgelenk des Mannes. Das Messer zitterte dicht vor seinem Gesicht. »Sie wollen es doch«, flüsterte Karp mit besänftigender Stimme. Die Spitze der Klinge ritzte Hoffmanns Haut. Mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht hielt Hoffmann Karps Hand mit dem Messer fest. Millimeter um Millimeter drückte er es von sich weg, bis schließlich der Arm des Deutschen nachgab und Hoffmann seinen Gegner im rasenden Hochgefühl seiner zurückgewonnenen Macht gegen das Eisengestell des Bettes schleuderte. Das Bett rollte zurück und stieß gegen die Wand. Hoffmanns linke Hand hielt immer noch das Handgelenk des Deutschen. Mit dem Ballen seiner Rechten drückte Hoffmann von unten gegen Karps Kinn, die Finger gruben sich in die Augenhöhlen. Als Karp vor Schmerz aufbrüllte, ließ Hoffmann los und umklammerte Karps dürren Hals, um den Schrei zu ersticken. Er legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Karp, verwandelte seine Angst und Wut in Kraft und drückte ihn gegen das Bettgestell. Er roch das animalische Leder des Mantels, roch den süßlich stinkenden Schweiß, spürte die Bartstoppeln an Karps Hals. Jedes Zeitgefühl war im Rausch des Adrenalins verschwunden, und doch kam es Hoffmann so vor, dass nur Sekunden später die Kräfte seines Gegners schwanden. Die an seiner Hand zerrenden Finger lösten sich, das Messer fiel klappernd zu Boden. Karps Körper erschlaffte, und als Hoffmann losließ, sackte der Mann zur Seite.
Erst jetzt nahm Hoffmann wahr, dass jemand gegen die Wand hämmerte und eine männliche Stimme in einem Französisch mit schwerem Akzent brüllte, was zum Teufel da los sei. Hoffmann rappelte sich auf, schloss die Tür, holte dann den Stuhl und klemmte ihn unter den Türgriff. Die Bewegungen lösten sofort einen schmerzvollen Alarm in verschiedenen Außenposten seines geprügelten Körpers aus: im Kopf, in den Knöcheln und Fingern, vor allem im unteren Brustkorb und auch – von seinen Fußtritten gegen den Kopf des Deutschen – in den Zehen. Er betastete seine Kopfhaut und schaute dann die Finger an: Sie waren voller Blut. Während des Kampfes musste die Wunde teilweise aufgeplatzt sein. Seine Hände waren mit winzigen Kratzern übersät, als wäre er durch Dornengestrüpp gerobbt. Er lutschte an seinen abgeschürften Knöcheln, das Blut schmeckte salzig und metallisch. Das Hämmern an der Wand hatte aufgehört.
Er zitterte und spürte abermals, wie ihm übel wurde. Er ging ins Bad und übergab sich in die Kloschüssel. Das Waschbecken hing halb herausgerissen an der Wand, aber die Hähne funktionierten noch. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und ging zurück ins Zimmer.
Der Deutsche lag auf dem Boden. Er hatte sich nicht gerührt. Die offenen Augen starrten an Hoffmann vorbei, als suchte er auf einer Party nach einem Gast, der nie kommen würde. Hoffmann kniete sich neben ihn. Er fühlte seinen Puls, klatschte ihm ins Gesicht, schüttelte ihn – als könnte er ihn so wiederbeleben. »Los, komm schon«, flüsterte er. »Das hätte mir gerade noch gefehlt.« Der Kopf kippte zur Seite wie der eines Vogels auf einem gebrochenen Hals.
Jemand klopfte energisch an die Tür. »Ça va? Qu’est-ce qui se passe?« Die Stimme mit dem starken Akzent aus dem Nebenzimmer. Mehrmals probierte der Fremde den Türknopf, dann fing er wieder an zu klopfen. »Allez! Laissez-moi rentrer! « Seine Stimme war jetzt lauter und nachdrücklicher.
Hoffmann erhob sich unter Schmerzen. Der Türgriff bewegte sich wieder, der Fremde drückte gegen die Tür. Der Stuhl ruckelte, aber er hielt. Dann wieder Ruhe. Hoffmann wartete auf die nächste Attacke, aber nichts passierte. Er ging vorsichtig zur Tür und schaute durch das Guckloch. Der Gang war leer.
Wieder spürte Hoffmann, wie animalische Angst in ihm aufstieg. Gelassen und schlau kontrollierte sie seine Instinkte und Bewegungen und ließ ihn Dinge tun, über die er nur eine Stunde später ungläubig den Kopf schütteln würde. Er riss die Schnürsenkel aus den Stiefeln des Deutschen und band sie zu einer etwa einen Meter langen Schnur zusammen. Er rüttelte an einer Wandleuchte, aber die Halterung war nicht stabil genug. Als er an der Stange des Duschvorhangs ruckte, kam ihm rosafarbener Wandverputz entgegen. Er entschied sich
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