Angstblüte (German Edition)
Robben im roten Algenschaum sterben, die Delphine auch schon, daß Venedig nach Algenfäulnis stinkt, das Ozonloch sich weitet, die Klimakatastrophe gedeiht, der Profit die Regenwälder vernichtet, da dämmerte in mir die Einsicht, daß nichts hilft. Und ich spürte wie noch nie mein Vertrauen. Mein Vertrauen in die Angst.
Gundi: Magst du lieber gerade oder ungerade Zahlen? Ich ziehe nämlich ungerade Zahlen vor. Gerade Zahlen meide ich, wo es geht. Die kommen mir öde vor, fast häßlich. Jede ungerade Zahl ist für mich ein Reiz. Und attraktiver als eine Primzahl ist für mich nichts. Und du?
Amadeus: Ich ahne, was ich jetzt anrichte. Aber mir sind gerade Zahlen viel lieber als ungerade.
Gundi: Endlich ein Streit.
Amadeus: Ungerade Zahlen kommen mir immer verbogen vor. Ich möchte sie immer aufrichten, trösten, daß sie ihre Ungeradheit nicht so schwernehmen sollen. Eines Tages, sage ich dann zu ihnen, werden alle Zahlen gerade sein. Dafür will ich sorgen.
Gundi: Du hast bestanden.
Amadeus: Dann hat mich mein Gefühl nicht getäuscht. Ich habe gespürt, es gehe eine Prüfung vor sich.
Gundi: Die du bestanden hast.
Amadeus: Aber du auch. Jaa! Ich habe dich auch geprüft. Als ich merkte, daß du mich prüfst, habe ich geprüft, was du für eine Prüferin bist.
Gundi: Und?
Amadeus: Toll.
Gundi: Aber du erst. Noch nie hat jemand den Test mit den geraden und ungeraden Zahlen so gut beantwortet. Den meisten genügt es, die Frage nicht ernst zu nehmen. Sie ist ja auch für die meisten nicht ernst zu nehmen. Für mich aber schon. Du hast dich behauptet. Frage: Stört es dich, wenn du merkst, daß du von jemandem mehr geliebt wirst, als du zurückliebst?
Amadeus: Stört es dich?
Gundi: Immer mehr. Ich will endlich die sein, die mehr liebt, als sie geliebt wird. Nur dann glüht doch das Dasein. Ich war haltlos. Prinzipiell haltlos. Ein Papierdrachen an der Kinderhand, jähe Abstürze, gerade noch abgefangen, bevor es zu spät war, und wieder aufwärtstaumelnd, sich wiegend wie ungefährdet. Bis zum nächsten Schwanken, Taumeln und Stürzen. Jetzt bin ich süchtig nach Halt, nach Fesselung. Ich will mich ausprobieren als Dienende. Wozu bin ich gut? Das will ich erfahren. Von dir, Amadeus. Ich halte um deine Hand an. Und ich gestehe ganz schnell noch, daß ich mich verliebt habe in dich, daß das nicht mehr aufgehört hat und daß ich dich deshalb eingeladen habe in dieses historische Zelt, um dir das, wie es sich für mein Fernsehleben gehört, öffentlich zu gestehen, live. Ich weiß, liebe Zuschauerinnen, das ist eine Zumutung. Aber für mich auch. Ich entschuldige mich für meine Unvorbildlichkeit. Und bin gespannt. Was aus den beiden wird. Ob etwas oder nichts, das, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, sehen Sie demnächst in: Zu Gast bei Gundi .
Sie springt vom hohen Hocker, Amadeus springt auch.
Gundi: Komm, Formulierer.
Amadeus: Wohin du willst.
Das Licht wechselt auf Arbeitslicht, das Zelt wird hochgezogen, verschwindet, das Meer findet nicht mehr statt, Amadeus und Gundi gehen Hand in Hand nach hinten, zwischen den Kameras und dem Studio-Team.
Karl von Kahn schaltete per Fernbedienung ab. Das Handy meldete sich. Er hörte Danielas Stimme und meldete sich nicht. Dann griff er in die Schublade mit Ereweins Hinterlassenschaft und las einen der Briefe, die Erewein schrieb, wenn man ihm zum Geburtstag gratuliert hatte.
Lieber Karl,
es gab, als wir zwölf oder fünfzehn waren, mehr als vier Himmelsrichtungen. Wo Du hinschautest, war eine Richtung. Der Himmel blitzte vor Möglichkeiten. Jeder Wetterschlag eine Revolution. Andauernd wurden Farben geboren. Auf der nassen Straße gingen wir an einem offenen Fenster vorbei, hörten, wie drinnen eine Geige gestimmt wurde, wie die Quinten sich suchten und fanden. Das wirkte wie eine Einladung zur Teilnahme beim Erschaffen der Welt. Wie öde der Bibelbeginn mit seinem Aufzählen des Nacheinanders. Was für ein Pedant mußte dieser Schöpfer gewesen sein, daß er erst das, dann das, dann das machen mußte, wo man doch andauernd erlebt, daß alles in einem Moment erfühlbar, erschaubar, erschaffbar ist. Alles auf einmal. Erinnerst Du Dich? Das war unser Lebensgefühl. Erinnerst Du Dich??
Dich grüßt
Dein Bruder
Dann saß Karl wieder. Dann holte er aus der Ereweinschublade das rote Büchlein und las wieder einmal den Zettel, den Erewein vorne hineingelegt hatte: Das ist das einzige Buch des Großvaters, das unsere Kriege überlebt hat.
Der Titel des
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