Angsthauch
zollen. Mannhaft schritt er die Stufen hinauf zur Straße. An der Haltung seiner Schultern konnte sie erkennen, dass er bereit war, sich gegen jeden Spott zu verteidigen, notfalls mit Fäusten.
Bei dem Anblick tat ihr das Herz weh. Was war nur in sie gefahren, dass sie es an diesen zwei armen, vernachlässigten Jungen ausließ? Und ihr Verhalten wurde nur noch schändlicher dadurch, dass sie nicht einmal sagen konnte – oder wollte –, worin dieses es überhaupt bestand.
Der Gestank einer vollen Windel breitete sich in der Küche aus. Rose klemmte sich Flossie unter den Arm und nahm sie mit nach oben ins Schlafzimmer, wo Anna vor sich hin döste. Rose hatte den Unfall ihrer Tochter ganz vergessen, und beim Anblick des Verbandes verschlug es ihr eine Sekunde lang den Atem.
Als Anna ihre Mutter hörte, regte sie sich und öffnete das gesunde Auge.
»Es tut weh, Mum.«
Rose legte Flossie aufs Bett und nahm die Tablettenschachtel, die Gareth in seiner Gedankenlosigkeit auf dem Nachttisch hatte liegen lassen. Sie las, dass der Patient je nach Stärke der Schmerzen alle zwei bis drei Stunden eine oder zwei Tabletten einnehmen solle. Sie vergewisserte sich, dass auch wirklich Annas Name auf der Packung stand und sie nicht irgendwie mit Pollys Medikamenten durcheinandergeraten war, dann sah sie auf die Uhr. Es war über zwei Stunden her, seit sie nach unten gegangen war und das Ruder wieder übernommen hatte, also konnte Anna die Tabletten ohne Bedenken nehmen. Aber wo in aller Welt waren die letzten zwei Stunden geblieben? Und hatte sie ihr Ziel erreicht? War sie wieder Herrin der Lage?
Sie strich sich mit der Hand über die Schürze, wie um unsichtbare Krümel wegzuwischen, dann setzte sie sich und gab Anna die Tabletten zusammen mit einem Glas Wasser, das seit Tagen neben ihrem Bett stand. Winzige Sauerstoffbläschen hafteten an der Innenseite des Glases, als wollten sie dem abgestandenen Milieu entfliehen.
»Puh, Mum«, sagte Anna und zog die Nase kraus.
Rose hatte die Windel ganz vergessen. Sie erhob sich und legte Flossie auf die Wickelunterlage am Boden, wo sie ihr erst die Strumpfhose auszog und sie dann von der vollen, aufgeweichten Windel befreite. Sie war gewaltig schwer. Rose hatte stets darauf bestanden, Stoffwindeln zu verwenden, aber während ihrer Krankheit mussten Gareth und Polly beschlossen haben, auf Pampers umzustellen, weil die weniger Arbeit machten.
Gareth und Polly.
»Wirf mir mal die Feuchttücher rüber«, bat sie Anna und zeigte auf die Plastikpackung, die auf Roses Seite neben dem Bett lag. Allmählich sah ihr Schlafzimmer aus wie ein Selbstbedienungskrankenzimmer. Es herrschte eine Atmosphäre des Ungewaschenen, die selbst der widerwärtige Gestank von Flossies Windel nicht überdecken konnte.
Rose atmete durch den Mund, während sie sorgfältig den hellbraunen Brei von Flossies Hintern wischte. Der Geruch von Exkrementen – selbst von denen ihrer eigenen Töchter – löste bei ihr Brechreiz aus. Sie fasste die stämmigen Beinchen ihrer Tochter und hob ihren Rücken an, damit sie auch dort saubermachen konnte, wo der Kot oben aus der Windel gequollen war. Flossie lag schlaff wie eine Puppe da und ließ alles über sich ergehen. Wo war ihr Temperament geblieben? Rose konnte sich noch gut an die erbitterten Kämpfe erinnern, die sie vor dem Krankenhausaufenthalt beim Wickeln ausgefochten hatten. Sie warf einen Blick zu Anna hinüber, die wie ein kleiner Geist in den Kissen lag. Munchs Krankes Kind.
Rose ließ den Kopf auf die Brust sacken und spürte das Pochen in ihrem Schienbein. Erschöpfung und Hunger saßen ihr nach überstandener Krankheit noch tief in den Gliedern.
Wie kaputt wir doch alle sind, dachte sie.
»Ich glaub, mir geht’s schon wieder besser«, meldete sich Anna vom Bett her. »Kann ich aufstehen?«
»Warte noch ein bisschen«, murmelte Rose. »Wenn du dich gut genug fühlst, kannst du zum Abendessen runterkommen.«
»Ich will aber fernsehen«, maulte Anna. »Mit Nico und Yannis. Hier oben ist es langweilig.«
Mit der schmutzigen Windel in der Hand stand Rose auf. Die frisch gepuderte und gewickelte Flossie hatte sie sich unter den Arm geklemmt, als trüge sie eine zusammengerollte Decke oder ein Bündel Feuerholz.
»Na gut, wenn du dich hier oben nicht beschäftigen kannst, dann komm eben mit runter.« Ihr Ton war gereizt. »Aber ich kann mich nicht um dich kümmern, ich muss Essen kochen.«
»Danke«, sagte Anna, leicht verstört angesichts der
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