Angsthauch
nicht wahr – sie ist noch zu sehr in ihrer Trauer um Christos gefangen. Wenn das Leben sie trifft, dann richtig hart.«
»Die Sorte Mensch kenne ich. Trooper – hierher!« Simon wandte sich ab, um den Hund zu rufen, der ein wenig zu aufgeregt war und Yannis bedrängte. Rose war fast geblendet vom Licht der Sonne, das sich in Simons weißblonden Haaren fing. Sie würde ihn Polly so schnell wie möglich vorstellen. Er konnte gut zuhören. Er würde sie aufheitern.
Sie kamen vor der Schule an, und Rose gab ihrer nassen, schlammbespritzten Tochter einen Abschiedskuss. Sobald alle Schüler in ihren Klassen verschwunden waren, ging sie mit den Jungs zu Janet Jones, der Schulleiterin.
Die Jungen warteten vor dem Büro mit einem Stapel Bücher. Rose konnte sie durch die Glastür sehen und freute sich, dass sie, statt sich gegenseitig kurz und klein zu schlagen, in ein Kinderlexikon vertieft waren.
Wie Rose vorausgesehen hatte, bedeutete ihr Engagement an der Schule – als Elternsprecherin, Herausgeberin der Schulzeitung, Leiterin des Matheclubs und hin und wieder sogar als inoffizielle Springerin, wenn jemand krank war –, dass Janet nichts dagegen hatte, die beiden Jungs für die kommenden zwei Wochen, während die Anmeldung von der Schulverwaltung bearbeitet wurde, vorläufig aufzunehmen.
»Ich habe noch je einen freien Platz in der ersten und vierten Klasse. Wie steht es mit ihrem Englisch?«
»Ausgezeichnet. Polly – ihre Mutter – konnte nur ein paar Brocken Griechisch, deshalb wurde zu Hause immer Englisch gesprochen.« Rose widerstand der Versuchung, hinzuzufügen, dass der Wortschatz der Jungs ein wenig zum Rustikalen hin tendierte.
»Das wird unserer Schule guttun. Wir sind hier ziemlich monokulturell, und ihre Erfahrungen aus Griechenland können den Horizont unserer Kinder erweitern«, sagte Janet. Rose dachte an das Benehmen der beiden beim Frühstück und hoffte, dass die Horizonterweiterung gewisse Grenzen nicht überschreiten würde. Aber auch das behielt sie für sich.
»Natürlich würde ich gern so bald wie möglich ihre Mutter kennenlernen«, fügte Janet hinzu und reichte Rose die Anmeldeformulare. »Wie geht es ihr denn?«
»Ich komme heute Nachmittag mit ihr her. Ihr geht es den Umständen entsprechend gut.«
Rose und Janet beobachteten die Jungen durch die Scheibe in der Tür. Die Gesichter unter den zerzausten Haarschöpfen waren nicht zu sehen, weil sie tief über ihre Bücher gebeugt dasaßen.
»Die armen Kleinen«, meinte Janet. »Wir werden alles daransetzen, dass sie sich hier gut aufgehoben fühlen.«
Rose war froh. Für die Jungs war also gesorgt.
9
A uf dem Heimweg ließ sie sich Zeit. Polly war wahrscheinlich noch nicht wach, Gareth arbeitete, und Flossie schlief tief und fest im Tuch vor ihrem Bauch. Es bestand kein Grund zur Eile. Der Himmel war strahlend blau, mit kleinen weißen Wattewölkchen.
Sie liebte diesen Weg zurück von der Schule. Zu wissen, dass Anna – und nun auch die Jungs – glücklich in ihren Klassenzimmern saßen, dass Flossie sicher im Tragetuch schlief und ihr neues Heim auf sie wartete – all das löste in ihr ein wunderbares Gefühl der Erfülltheit aus.
Sie erinnerte sich noch gut an den von Müll und Hundekot übersäten Heimweg von Annas Spielgruppe in Hackney. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken an die Unterführung, die sie jedes Mal im Laufschritt durchquert hatte, während ihr das Herz bis zum Hals schlug und der Buggy über Steine rumpelte und durch Urinlachen platschte. Sie war im siebten Monat schwanger gewesen, als sich ihr eines dunklen Winterabends auf dem Nachhauseweg von der Schule ein Jugendlicher mit eingefallenem Gesicht in den Weg gestellt und sie mit einem Messer bedroht hatte. Er war Rose vage bekannt vorgekommen – war er nicht vor ein paar Jahren in ihrer sechsten Klasse gewesen? Aber falls auch er sie als seine ehemalige Lehrerin wiedererkannt hatte, hatte er sich nichts anmerken lassen. Er hatte ihre Handtasche verlangt, und sie hatte sie ihm, ohne zu zögern, gegeben. Es wäre Irrsinn gewesen, sich wegen zehn Pfund und einer leicht zu ersetzenden Visakarte abstechen zu lassen. Ihr Herz hatte wie verrückt geklopft, und Anna hatte in ihrem Bauch vor lauter Adrenalin Purzelbäume geschlagen.
Der Überfall hatte Roses Sicht auf ihre Wohngegend nachhaltig verändert. Wahrscheinlich war dies der Moment gewesen, in dem in ihrem Kopf die Idee einer Flucht aufs Land geboren worden war. Und jetzt stand sie
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