Angstschrei: Thriller
unterhalb der Straße und schleuderten knapp zehn Meter hohe Gischtfontänen in die Luft. Der Vollmond brach sich glitzernd im Wasser. Jetzt waren sogar noch mehr Sterne am Himmel als zuvor. Abby fühlte sich gut. Sie joggte. Sie ließ die Finger vom Bier. Sie nahm ihre Medikamente. Die Stimmen bleiben die meiste Zeit über stumm. Sie fühlte sich sogar langsam wieder wohl als Frau, so wie vor sieben Jahren an der Portland High und die beiden Jahre danach an der University of Southern Maine. Bevor die Stimmen sich in ihrem Kopf eingenistet hatten. Bevor sie versucht hatte, sie durch einen Sprung von den Klippen bei Christmas Cove zum Schweigen zu bringen. Nicht nur einmal, sondern zweimal. Bevor sie zwei Jahre lang in Winter Haven eingesperrt worden war und dann noch mal fast ein Jahr unter lauter Ausreißern und Drogensüchtigen in John Kellys Wohnheim in der Stadt zugebracht hatte. Jetzt war sie zwar wieder zu Hause, aber sie war nicht frei. Abby wusste aus Erfahrung, dass sie sich keine Unachtsamkeit leisten konnte. Die Stimmen lebten. Medikamente hin oder her, es konnte jederzeit zur Katastrophe kommen.
Auf dem asphaltierten und nahezu ebenen Weg konnte sie ihre Schritte beschleunigen. Die Häuser auf dieser Seite der Insel waren meist neuer und größer und die Besitzer allesamt keine Einheimischen. Die eine Hälfte gehörte reichen Pensionären. Die meisten verzogen sich immer gleich nach Neujahr für vier Monate nach Florida. Die andere Hälfte gehörte noch reicheren Sommergästen, die die meiste Zeit des Jahres an Orten wie New York oder Dallas oder L. A. zubrachten. Ein Ehepaar stammte sogar aus London und hatte sich bei Seal Point direkt am Wasser einen riesigen, protzigen Kasten gebaut. Wahrscheinlich zwei Millionen wert. Mehr Geld, als die meisten Inselbewohner im ganzen Leben verdienten. Und dann waren sie nie länger als vier Wochen im Jahr hier. Während der restlichen achtundvierzig Wochen stand das Haus verlassen und verschlossen da. Sommergäste hatte es auf Harts Island schon immer gegeben, aber noch nie welche, die sich ein solches Leben leisten konnten. Die Insel veränderte sich, und das fand Abby traurig. So, wie es hier während ihrer Kindheit gewesen war, hatte es ihr besser gefallen. Sie wünschte, die Londoner würden einfach wieder zurück nach London gehen und ihre dicke, fette Villa mitnehmen. Oder sie raus aufs Meer treiben lassen. Ja, sie bezahlten sie dafür, dass sie darauf aufpasste, und ja, sie nahm das Geld gern. Aber trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, wenn es sie nicht gegeben hätte.
Vor hundert Jahren hätten die meisten Inselbewohner nicht einmal zu träumen gewagt, hier draußen am offenen Meer etwas anderes als eine Fischerhütte zu bauen. Noch vor zwanzig Jahren, als Abby ein kleines Mädchen gewesen war, hatten hier am Strand nur wenige und überwiegend einfache Häuser gestanden. Es war einfach viel zu kalt und die Nordostwinde viel zu stürmisch. Aber heutzutage fanden die Leute gar nichts mehr dabei, auf die Insel zu kommen, sie von Grund auf zu verändern, die Grundstückspreise und Steuern immer weiter in die Höhe zu treiben und die Natur auf eine Art und Weise herauszufordern, die Abby arrogant und falsch vorkam.
Wäre Abby nur ein, zwei Schritte schneller gelaufen, hätte sie die Biegung bei Seal Point nur ein, zwei Sekunden früher erreicht, oder hätte sie vielleicht einfach nur aufs Meer hinausgeschaut, als das Streichholz hinter dem Fenster im ersten Stock aufflackerte, dann hätte sie es nie gesehen. Doch auch in diesem Fall war, wie so oft in ihrem Leben, das Glück nicht auf Abbys Seite. Das Streichholz flammte auf. Sie sah es. Dann war es wieder erloschen. Es ging so schnell, dass sie sich nicht einmal sicher war, ob es überhaupt passiert war. Sie blieb stehen und starrte zu dem Fenster hinauf. Das Haus von Todd und Isabella Markham war ein großes, mit grauen Schieferschindeln verkleidetes, neo-viktorianisches Gebäude im » traditionellen Inselstil«, wie Isabella gern sagte. Sie hatten es auf einem künstlichen Hügel aus zehn Lastwagenladungen Erde errichten lassen, um einen noch eindrucksvolleren Blick auf den Ozean zu haben. Es besaß einen dreieckigen Frontgiebel und auf der rechten Ecke einen kleinen, runden Turm. Ein Dutzend Stufen führten hinauf zu einer breiten, offenen Veranda, die einmal um das ganze Haus herumlief. Abby stand im Schatten, starrte zu dem Fenster hinauf und fragte sich, ob sie sich das Ganze vielleicht nur eingebildet
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