Angstspiel
klar, dass er mir körperlich fürchterlich überlegen ist. Ich habe keine Chance gegen ihn. Durch meine Überlegungen höre ich ihn sagen: »Heute Abend bin ich leider schon vergeben. Aber ein anderes Mal gerne.«
Schon vergeben.
Ich werde ihm niemals vergeben. Egal, was jetzt noch passiert. Als Sandy sich verabschiedet hat, legt Philipp seinen inneren Schalter wieder um.
»So«, sagt er nur, aber es klingt bedrohlich.
Philipp steht mit viel Energie im Körper auf. Ich rappele mich auch schnell hoch. Ich will nicht in diesen Keller. Das ist alles, was ich jetzt denke. Wenn ich erst mal in seinem Verlies bin, werde ich ersticken. Auch mit Luft. Ich brauche jetzt sehr schnell einen neuen Plan.
»Hat Merlin eigentlich schon die CDs abgeholt? Der wollte doch heute vorbeikommen. Ich hatte die an Julchen weitergegeben und jetzt braucht Merlin die wohl dringend.«
»Wer? Was für CDs?«
Ich brauche Zeit. Ein paar Ideen schwimmen wie Fettaugen auf einer Brühe. Aber ich brauche mich nicht für ein Fettauge zu entscheiden. Denn es klingelt. An der Tür.
»Das ist bestimmt Merlin«, sage ich.
Ich ahne, wer zu dieser nächtlichen Uhrzeit vor der Tür steht - oder hoffe vielmehr. Aber egal, wer auch immer es ist - für meine Sackgassensituation ist es gut, dass Philipp mal kurz abgelenkt wird.
»Ab ins Bad«, zischt er mich an.
Natürlich lässt er mich nicht hier oben alleine. Er schubst mich in das Bad zwischen seinem und Julchens Zimmer. Was fand ich das am Anfang cool: ein Badezimmer, das von zwei Seiten aus erreicht werden kann. Wie in einem Hotel irgendwie. Er schließt die Tür zu Julchens Zimmer zu, steckt den Schlüssel ein und legt sich kurz den Zeigefinger auf die Lippen, ehe er die Tür zu seinem Zimmer von außen abschließt.
Ich höre es wieder klingeln. Gott sei Dank. Wer immer es ist, er ist noch da. Ich höre Philipps Schritte auf der Treppe und kippe Julchens Schmuckdose um. Was Philipp nicht weiß: Hier ist ein Ersatzschlüssel. Irgendwann war Julchen mal aus Versehen hier oben eingeschlossen, danach hatte sie sich den Zweitschlüssel machen lassen. Ich habe eine vage Vorstellung, wer sie hier eingesperrt hat. Trotz des Zitterns schaffe ich es, die Tür lautlos zu öffnen. Ich taste mich durch Julchens Zimmer, schlüpfe auf den Flur.
Ich höre, wer geklingelt hat. Ich habe mich sehr lange nicht mehr so über ihre Stimme gefreut.
»Kann es sein, dass du ganz alleine zu Hause bist?«, höre ich meine Schwester gurren. Ich gehe zum Treppenabsatz. Ich sehe Philipp in der Haustür lehnen, ganz relaxt.
Ich gehe ein paar Schritte vor.
Ich sehe Luise. Sie hat an den Füßen Rollerblades, dann ganz lange nichts und dann die Hotpants, die Mama ihr verboten hat, in die Schule anzuziehen, weil sie so megasexy sind. Sie holt sich wahrscheinlich gerade eine Blasenentzündung. Dass sie schon da ist - sie muss echt Gas gegeben haben! Ich gehe in Zeitlupe weiter runter. Ich komme in Luises Blickfeld, und sie bleibt ganz cool. Ich sehe, dass sie mich sieht. Dabei tut sie so, als gucke sie durch mich hindurch.
»Ich habe gehört, dass deine Familie weggefahren ist, und du hier ganz alleine bleiben musst.«
Ich bin schon kurz vor der Küchentür. Ich versuche, durch die Nase zu atmen, damit ich nicht keuche und mich nicht verrate.
Philipp wechselt auf das andere Standbein. Wenn er sich jetzt umdreht, habe ich ein Problem. Luise fängt an, an dem Reißverschluss ihrer sehr, sehr kurzen Jacke zu spielen.
»Puh, es ist aber auch warm hier.«
Ich sehe einen Spitzenträger. An Philipps Körperhaltung erkenne ich, dass er ihn auch sieht. Offenbar hat Luise unter der Jacke nur einen BH an. Das gibt eine Blasenentzündung plus Bronchitis.
Ich bin so zum Zerreißen angespannt und trotzdem fällt mir jetzt ein Song ein, den meine Mutter gerne mal zehn bis zwanzig Mal hintereinander hört. »Für dich tu ich fast alles, sogar mich extrem erkälten.«
Die Küchentür ist nur angelehnt, ich stoße sie lautlos auf, schlüpfe hindurch. Ich habe nur eine Hoffnung. Eine
ganz dünne. Vielleicht hat Philipp die Hintertür vergessen. Hinter der Küche gibt es einen Vorratsraum und von dort führt eine schmale Tür nach draußen. Ich weiß das, weil ich Frau Rohmann mal da draußen mit einer Zigarette gesehen habe.
Ich höre Luise. Sie spricht sehr laut.
»Vielleicht können wir ja auch mal zusammen auf die Rolle gehen.«
Auf die Rolle.
Ich weiß genau, welche Rolle sie meint. Ich halte die Luft an, als ich mich in den
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