Angstspiel
Wie es wäre, ganz woanders geboren zu sein. Wie wir leben würden, wer wir wären. Wir haben parallel Krimis im Radio gehört und zusammen gerätselt, wer wohl warum der Mörder sein könne. Er hat mir von seinem Wunsch erzählt, einfach wegzugehen. Manchmal würde er am liebsten einfach wortlos seinen Rucksack nehmen und die Tür hinter sich zumachen. Ich hatte das Gefühl, dass er sehr traurig war. Er hat mir von einer Kurzgeschichte erzählt, die er geschrieben hat. Eine Geschichte mit einer blinden Katze und einer verbitterten Oma. Die Oma hatte mit Fallen mehrere Mäuse im Garten gefangen. Kaktus hatte mir die Frau genau beschrieben, wie sie mit ihrem Stock ganz langsam die Treppe runtergeht, wie sie mit kleinen Schritten in den Garten trippelt. Sie schnitt die toten Körper auf und rieb sie an den merkwürdigsten Sachen. An einer Gabel, einem Stück Seife, einem Ei, einem Tennisball. Die Dinge verteilte sie in der Wohnung und die Katze fiel natürlich darauf rein. Die Oma saß stundenlang in ihrem Sessel und guckte zu, wie die Katze versuchte, die Seife zu essen. Wie sie immer verzweifelter wurde. Weil die Seife fies schmeckte, sie immer wieder aus ihrem Mund flutschte und doch so toll nach Maus roch. Die Oma studierte, wie die Katze sich an der Gabel verletzte und vom Hunger getrieben doch immer wieder zubiss. Natürlich gab die alte Frau ihrem Haustier auch etwas zu Fressen. Wenn das Tier schwächer wurde, öffnete sie eine Dose des teuersten Katzenfutters. Sie liebte ihre Katze. Aber sie liebte auch das fiese Spiel. Das war für sie besser als jeder Besuch von Florian Silbereisen.
Die Geschichte hatte mich entsetzt. Natürlich. Völlig bescheuert wie ich war, hatte ich gedacht, dass Kaktus sich manchmal wie die Katze fühlte. Jetzt weiß ich genau, wer hier die Katze ist. Und wer die hinterhältige alte Frau.
Nachdem Kaktus mir von der Geschichte geschrieben
hatte, traute ich mich, ihm zu verraten, dass ich ab und zu Gedichte schreibe. Das wissen die wenigsten. Luise natürlich. Und auch Merlin. Aber sonst eigentlich niemand. Merlin ist quasi mein Bruder. Er ist der Sohn von Mamas bester Freundin Heike. Ich glaube, wir haben schon zusammen im Sand gespielt. Bei Wind und Wetter mussten wir auf den Spielplatz. Vielleicht haben wir uns aber auch da erst kennengelernt. Keine Ahnung. Auf jeden Fall ist Heike für mich so was wie eine Zweitmama. Wir waren andauernd zusammen im Urlaub. Ich weiß gar nicht, wie oft Merlin, Luise und ich schon zusammen in einem Kinderzimmer geschlafen haben. Merlin war auch zusammen mit uns in der Grundschule, ist mit uns zusammen in die fünfte Klasse gekommen, und jetzt ist er mit mir aufs Gymnasium gewechselt. Ein bisschen nervt er mich seitdem. Er klettet ziemlich. Was ich besonders kacke finde, weil ich ja selber irgendwie an Julchen klette. Durch Merlin merke ich, wie sehr einen das abtörnen kann, wenn irgendjemand einfach andauernd ankommt und irgendwas will. Irgendwie ein bisschen, als wäre man in Hundescheiße getreten. Auf jeden Fall hat Merlin mal mitbekommen, dass ich ab und zu Gedichte schreibe. Er hat sogar interessiert nachgefragt. Ein blöder Spruch ist auf jeden Fall nicht gekommen. Wäre mir aber auch ziemlich egal gewesen. Merlins Meinung ist einfach nicht wichtig.
Kaktus war auch total interessiert, als ich ihm von den Gedichten erzählt habe. Er wollte natürlich eins haben, aber irgendwie habe ich mich nicht dazu durchringen können. Ich hätte es ihm im Chat schreiben müssen, und das war mir dann doch zu öffentlich. Schon damals war ich kurz davor, ihn nach seiner richtigen Mail-Adresse zu fragen. Habe ich mir dann aber doch verkniffen. Das wäre dann ja ein bisschen so gewesen, als hätte ich um ein Date gebeten. Wenn er mich nach meiner Mail-Adresse gefragt
hätte, hätte ich ihm die damals schon geschrieben. Habe ich aber erst später. Und das ist der Haken. Das ist einer der Gründe, warum ich auch Julchen alles so ungern im Detail erzähle. Dabei hatte Kaktus mich noch nicht mal gefragt. Und das macht es natürlich noch peinlicher.
Julchen schafft es dann doch nicht am Nachmittag. Erst am Donnerstag findet sie Zeit. Sie kommt um vier und setzt sich mit wichtiger Miene an meinen Schreibtisch, holt einen Block und einen Kuli aus ihrer Tasche und macht ein angestrengtes Gesicht. »So, jetzt werden wir uns diesen durchgeknallten Typen mal vornehmen. Wir werden ihn enttarnen und dich rächen.«
»Gute Idee«, sage ich vorsichtig. Ich hoffe so
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