Angstspiel
dem Aufflackern.
»Linda, im Ernst, jetzt muss was passieren. Der Typ geht jetzt echt zu weit.«
Sie sagt das so, als hätte ich das die ganze Zeit nicht ernst genommen. Als hätte ich nicht schon längst wieder angefangen mir die Fingernägel blutig zu kauen. Ich war so stolz gewesen, mir das abgewöhnt zu haben. Es hatte anderthalb Ewigkeiten gedauert, bis die ersten Nägel ganz leicht wieder über die Fingerkuppen gewachsen waren. Und jetzt habe ich alles wieder bis auf den letzten Millimeter runtergerissen. Habe mir die eigenen Zähne wieder in das Fleisch gehauen. Nur um etwas zu spüren, was noch ein bisschen tiefer geht als die blanke Furcht.
»Du musst mit deinen Eltern reden.«
»Nein.«
Sie hebt nur eine Augenbraue.
»Vergiss es. Das mache ich nicht.«
Sie legt den Kopf schief, hebt jetzt beide Augenbrauen. »Und warum nicht, bitte schön?«
Jetzt muss ich mir was einfallen lassen. Ich kann Julchen unmöglich den wahren Grund erzählen. Wenn sie
mich auch noch als Psychowrack abspeichert, dann habe ich keinen mehr, der mir glaubt. Auf keinen Fall darf sie von meiner Karriere als jüngste Psychopathin auf Frau Stanges’ nichtvorhandener Couch erfahren.
»Mein Vater wird mir erst einen mehrstündigen Vortrag über die Gefahren des Internets im Allgemeinen und die des Chattens im Besonderen halten. Wahrscheinlich sperrt er mir den Zugang. Luise wird mit ihrem Paul über mich ablästern. Meine Mutter wird von jetzt auf gleich völlig verstört sein. Sie wird total hysterisch werden und von da ab wahrscheinlich permanent um mich rumscharwenzeln. Das hilft mir alles nicht.«
»Ich werde dir helfen.«
So, wie Julchen das sagt, klingt das, als sei alleine durch die Ankündigung der Ende des Schreckens eingeläutet.
»Und wie willst du das machen? Hast du schon irgendeine Idee?«
»Ganz klar: Wir müssen diesen beknackten Kaktus finden. Ihn zur Rede stellen. Vielleicht solltest du ihn anzeigen. Mit Sicherheit bist du nicht die Einzige, die er so tyrannisiert.«
»Das Beste wird dann eine Sammelklage sein. Ich sehe schon den Gerichtssaal voll mit wütenden Mädels.«
Ich weiß gar nicht, wie ich es schaffe, über all das hier Witze zu machen. Aber seit gerade, seit dem Moment, als Julchen angekündigt hat, dass sie mir helfen will, kann ich schon wieder ein bisschen durchatmen. Mir glaubt jemand. Jemand außer mir sieht die Bedrohung. Und vielleicht schafft sie es ja wirklich, dem Grauen hier ein Ende zu machen. Ein Dreitonhupen, unterlegt von lauter Musik, schallt von der Straße über den Schulhof. Philipp kommt, um Julchen abzuholen. Sie schnappt sich ihre Tasche, drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Ich komme heute Nachmittag zu dir. Dann machen wir einen Plan.«
Wir machen einen Plan. Das klingt gut. Das klingt ein bisschen wie »Alles wird gut«. Da ist eine Stimme in mir, die flüstert, dass es so einfach nicht sein wird. Eine Stimme, die wispert: Freu dich nicht zu früh. Ich schnappe meine Tasche und mache mich auf den Heimweg. Zu Hause drehe ich die Musik auf. Dann höre ich die Stimme nicht mehr.
Ich versuche, ihn mir hier vorzustellen. Hat er sich an den Schreibtisch gesetzt und hat sich auf dem Stuhl von rechts nach links schwingen lassen? Jeden Zentimeter mit seinem Blick abgetastet? Hat er sich in den Lesesessel geworfen und die Füße auf meinen Tisch gelegt? Ich glaube nicht, dass er sich aufs Bett gelegt hat. Ich habe überall gerochen. Ich bin schnüffelnd über die Matratze gekrabbelt. Habe nach Haaren gesucht, die nicht von mir sind. Ich habe ein paar dunkle gelockte Haare gefunden, aber die gehören eindeutig Luise. Natürlich habe ich auch alles andere abgesucht, hatte Schiss, dass ich irgendwo eine Nachricht von ihm finde. Ich hatte nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, dass er was Wertvolles geklaut haben könnte. Ich hatte eher die Sorge, er hat was hinterlassen für mich.
Was ich einfach nicht begreife: Wie passt das alles zu dem Typen, mit dem ich stundenlang gechattet habe?
Zu dem Typen, mit dem ich mir gleichzeitig einen Sonnenaufgang angeguckt habe? Wir haben überlegt, wo wir in dem Moment gerne wären.
Wir haben über das Geräusch geredet, das die Wellen machen, wenn sie ans Land klatschen. Dass es manchmal wirklich funktioniert, sich eine Muschel ans Ohr zu halten, um das Geräusch wieder zu fühlen. Als Kaktus sagte, dass das aber auch funktioniere, wenn man sich eine leere Bierflasche ans Ohr hält, musste ich total lachen.
Wir haben rumgesponnen.
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