Angstspiel
sehr, dass Julchen gerade den Anfang vom Ende macht. Dass sie das letzte Kapitel in dieser Horrorgeschichte beginnt. Wirklich glauben kann ich es noch nicht. Und ganz ehrlich? Ich habe auch ein bisschen Schiss davor. Schiss zu wissen, wer er ist. Dann habe ich ein Gesicht vor Augen. Vielleicht ist er so ein Typ »Karussellbremser«. So einer mit faulen Zähnen, Tattoos im Gesicht und gelben Fingern vom vielen Rauchen. Vielleicht ist es aber auch so’n Typ, der bei »Bauer sucht Frau« mitspielen könnte. Ende vierzig, speckiger Bauch, fettiger Haarkranz. Einer, der sich von seiner Mama in der Wanne den haarigen Rücken waschen lässt. Einer, der sich im wahren Leben nicht an Frauen rantraut. Ich atme tief ein, beruhige mich. Versichere mir, dass das Quatsch ist. Solche Typen schmieren kein Herz an mein Fenster. Die würden mir Liebessulzbriefe mit Rechtschreibfehlern schicken.
»Erzähl mir einfach alles noch mal von Anfang an. Durch irgendwas hat der Typ sich mit Sicherheit verraten.«
Julchen klingt wie in einem Fernsehtatort.
»Er hat mich im Chat angesprochen. Am 17. August.«
»Das weißt du noch so genau?«
»Ja.«
Sie schaut mir forschend ins Gesicht.
»Es war gleich zu Schuljahresbeginn …«, rechtfertige ich mich. »Deswegen habe ich mir das gemerkt.«
Ich könnte jetzt auch sagen, dass ich alle unsere Gespräche ausgedruckt habe. Dass ich eine Mappe besitze, auf der draußen ganz groß »KAKTUS« steht. Darum habe ich mal - aus einer bescheuerten Laune raus - ein Herz gemalt. Aber nicht nur deswegen sage ich nichts von den Ausdrucken. Sosehr ich will, dass Julchen mir hilft, alles muss sie ja auch nicht wissen. Sie muss nicht in jedem Zimmer meines Herzens rumstöbern. Diese Ausdrucke werde ich nie im Leben irgendjemandem zeigen. Deshalb kann ich ja auch Mama und Papa oder Luise nichts erzählen. Denn dieses Beweismaterial ist topsecret. Das ist mein großes privates Geheimnis. Schlimm genug, dass ich die Türen für einen Typen aufgemacht habe, den ich eigentlich nicht kenne.
»Über was habt ihr denn gesprochen?«
»Eigentlich über alles. Über Musik. Filme. So was eben.«
»Linda, ein bisschen ausführlicher musst du schon sein. Sonst kann ich dir echt nicht helfen.«
Ich weiß ja, dass sie recht hat.
»Julchen, ich habe selber schon Millionen Mal über alles nachgedacht. Ich habe mein Gehirn ausgewrungen nach einem Hinweis. Es ist einfach nichts dabei rausgekommen.«
»Hat er mal von irgendeiner Kneipe erzählt, in die er geht? Hat er erzählt, in welcher Gegend er wohnt? Hat er was von Sport gesagt? Fußball, Handball oder Hallenschach? Er muss doch irgendwas von sich erzählt haben.«
»Er kommt auch von hier. Wir haben uns über das Drachenfestival unterhalten. Das kannte er.«
»Linda, verdammt, im Chat sind nur Leute von hier. Das ist ja der Vorteil. Genau deswegen sind wir ja alle da.« Julchen wird ein bisschen ungeduldig: »Du kannst mir wirklich nicht erzählen, dass ihr stundenlang chattet und du nichts über ihn weißt.«
Ich habe keine Lust. Ich will Julchen einfach nicht erzählen, über was Kaktus und ich geredet haben. Sie würde das nicht verstehen. Nicht verstehen können. Dafür ist sie zu gut gelaunt. Immer. Ich glaube, sie kennt diesen Grauschleier nicht, der sich manchmal über den Tag legen kann. Diese schweren Gedanken, die einen am Boden halten, wenn man doch fliegen will. Diese Sehnsucht nach dem, was man nicht kennt. Wie Heimweh ohne ein Zuhause.
Plötzlich lehnt sie sich zurück. »Du bist im Chat doch als ›Ich + Ich‹, oder? Wie kommt denn der Typ dann plötzlich an deine E-Mail-Adresse? Woher hat der die? Und wie kann der Fotos von dir im Freunde-VZ fälschen? Wie kommt der an deinen Namen?«
Die Stille ist brutal. Als würde sogar die Uhr die Luft anhalten.
Ganz leise formt mein Mund die Worte: »Ich habe ihm meinen Namen geschrieben.«
»Wie bitte?«
Natürlich hat mich Julchen verstanden. Sie will es noch mal hören. Ist völlig ungläubig.
Ich wiederhole es. »Ich habe ihm meinen Namen geschrieben.«
»Bist du wahnsinnig?«
Sie starrt mich an, als hätte ich gerade gestanden, ich sei in unseren Mathelehrer verknallt.
»Deinen vollen Namen mit Vornamen und Nachnamen?«
Ich nicke.
»Auch noch deine Maße, deine Kontonummer? Sonst noch was?«
Ich schüttele nur den Kopf.
Sie atmet ganz tief ein und aus und sagt dann ganz ruhig.
»Das war nicht so gut, Linda. Das war echt nicht gut.«
Als wenn ich das nicht selber wüsste.
»Linda,
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