Angstspiel
auf dem Boden gelandet ist, schnallt er mich an. Das heißt, dass er zwischen meinen Beinen rumfummelt, um die Haken zu befestigen. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir jemals irgendwas peinlicher war.
Ich steige. Schritt für Schritt. Ich gucke immer nur auf die Hand vor mir, meine Hand. Ich schaue nicht nach unten, nicht nach oben. Starre nur ganz geradeaus. Mein Herz ist eine Bassbox. Ganz tief und schnell schlägt es, als wolle es an allen Enden gleichzeitig raus. Als ich an der Spitze angekommen bin, brüllt Philipp von unten: »Super. Jetzt stell dich auf die Plattform. Und nicht wackeln.«
Die Plattform ist ungefähr so groß wie ein DIN-A4-Blatt. Irgendwann hänge ich drauf. In der Hocke. Ganz langsam
habe ich die Füße neben meine Hände gestellt. Ich kann nicht aufstehen.
»Stell dich gerade hin. Kopf hoch«, brüllt Thilo.
Kalter Schweiß liegt auf mir wie eine zweite Haut. Ich rieche meine Angst.
»Jetzt!«, schreit Philipp.
Ich tue es. Millimeter für Millimeter ziehe ich meine Hände von dem kalten Metall. Meine Handabdrücke sind feucht zu sehen. Ich richte mich langsam auf.
»Hintern rein«, brüllt Thilo schon wieder.
Ich beiße die Zähne aufeinander.
Und dann fängt es an. Mein Körper fängt an zu wackeln. Das ist kein Zittern mehr. Völlig unkontrolliert bewegen sich die Arme. Ich kann die Beine nicht ruhig halten. Der ganze Turm wackelt mit. Erst langsam, dann stärker. Ich bin ein einziges Beben. Kann mich nicht beherrschen.
»Spring«, befiehlt Philipp endlich.
Ich springe nicht, lasse mich einfach fallen, knicke ein.
Er grinst mich von oben an. Ich sitze vor ihm auf dem Boden.
»Das ist irre, was?«, lacht er.
»Es hat so fürchterlich gewackelt«, stöhne ich.
»Das ist die Angst. Die Furcht, die in dir steckt. Wie bei einem Tier. Wenn Tiere Angst kriegen, wollen sie fliehen. Dann schüttet der Körper haufenweise Adrenalin aus. Das macht wachsamer. Du hast da oben auch voll Adrenalin gesteckt, hattest Schiss. Aber du konntest ja nicht weglaufen. Unter dir war nur der Abgrund. Also wird das Adrenalin ganz schnell in den Muskeln wieder abgebaut, und die werden zum absoluten Wackelpudding. Geil, was?«
Ich nicke. Ein Vortrag über Biochemie ist genau das, was ich jetzt brauche.
Bei Julchen wackelt der Turm fast nicht. Sie steht ganz
gerade auf der winzigen Platte, jodelt zwei Mal laut, ehe sie sich in die Tiefe fallen lässt.
Eigentlich könnte ich stolz sein, denke ich, als ich unter der Dusche den Angstgeruch wegschäume und abwasche. Immerhin habe ich es geschafft. Ich bin den Turm hoch. Immerhin zehn Meter. Aber in mir ist kein Stolz. Nur die Erinnerung an das Beben, die Panik. Mein Körper hat sich fremd gefühlt, war unkontrollierbar. Und die Erinnerung daran ist jetzt abgespeichert auf meiner internen Festplatte. Mit Überschreibschutz. Es gibt Dinge, die vergisst man nicht so schnell. Manche vergisst man gar nicht.
Als ich als Letzte mit noch nassen Haaren am Auto ankomme, haben die anderen beschlossen, noch eine Pizza essen zu gehen. Ich würde lieber nach Hause fahren. Traue mich aber nicht, Philipp zu bitten, den Umweg zu machen. Und alleine will ich jetzt nicht los.
»Ich habe gar kein Geld mit«, versuche ich es trotzdem.
»Ich habe genug. Kein Problem«, kontert Julchen sofort.
»Oder willst du lieber nach Hause?«, fragt sie weiter.
»Nein, nein«, wehre ich fast zu schnell ab.
»Ich dachte schon, du willst dich wieder vergraben«, lacht sie.
Ich grinse schief. »Quatsch.«
Kurze Zeit später lasse ich mich auch noch überreden, zu meinen Käse-Tortellini ein Glas Wein zu trinken. Ich merke, wie ich müde werde und schwer. Als würde ich langsam wieder in mir landen, mich in mir ausbreiten und nicht mehr verschreckt in einer Ecke hocken. Wenn ich mich bewege, spüre ich meine Arme, die Waden, meinen Po und Muskeln im Rücken, von denen ich bisher noch nicht wusste, dass ich sie habe. Aber ich will mich gar nicht bewegen. Ich sitze nur da und lasse das Gerede an mir vorbeirauschen. Wie einen Radiosender. Philipp, Thilo, Julchen und Kai samt seiner Freundin Helene, die
noch vorbeigekommen sind, quatschen über alles Mögliche. Kai und Philipp lästern über ihre Patienten. Die beiden kennen sich von dem Pflegedienst, bei dem sie ihren Zivildienst machen. Ich wundere mich einmal mehr, dass Philipp tatsächlich im Alltag noch etwas anderes macht, außer gut auszusehen und Spaß zu haben. Philipp und Kai amüsieren sich über eine alte Frau, die sie
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