Angstspiel
sei. Das wird nicht mehr klappen.
»Mist. Ich muss los.«
Ich rappele mich hoch. Philipp schält sich auch aus dem Sessel.
»Wenn du dich von einem Briefträger kutschieren lässt, bring ich dich eben.«
Ich würde lieber laufen. Nein, würde ich nicht. Ich wäge ab. Laufen, noch später kommen und permanent das Gefühl haben, beobachtet zu werden, oder mit Philipp fahren, mich klein und doof und hässlich fühlen. Ich entscheide mich für die kleine, doofe, hässliche Variante. Ist immer noch besser als diese Angst.
»Das wäre total nett.«
Das ganze Haus stinkt bestialisch nach Käse. Es gab offenbar Fondue. Ein Gericht, das meine Mutter super beherrscht.
Mein Vater zündet den Spiritus an, macht den Käse warm, meine Mutter schneidet Brot in kleine Würfel. Ein Rezept ganz nach ihrem Belieben.
»Warum hast du nicht angerufen? Wir haben auf dich gewartet. Das nächste Mal sagst du Bescheid, ja?«
Das ist alles. Ich hatte mit einem mehrminütigen Monolog gerechnet. Wie wichtig gemeinsame Mahlzeiten sind, dass nicht jeder kommen und gehen kann, wie er will. Wir seien schließlich eine Familie, keine Wohngemeinschaft. Es sei respektlos, andere warten zu lassen. Und so weiter. Das alles kommt nicht. Ich habe offenbar doch nicht so gefehlt. So wichtig scheint es nicht zu sein, dass ich auch mit dabei bin. Ob ich schon Abendessen hatte, interessiert auch niemanden.
Ich gehe runter in mein Zimmer, höre im Dunkeln noch ein neues Hörbuch. Wenn ich es laut genug mache, ist außer für die Stimmen für nichts anderes Platz in meinem Kopf. Ich hatte gehofft, dass ich bei der Story einschlafe. Sie ist leider zu spannend. Nach dem letzten Wort bin ich noch immer wach. Kurz entschlossen lasse ich mir Badewasser ein. Ich habe einen ziemlichen Wasserverbrauch in letzter Zeit - aber das Badezimmer ist perfekt. Fensterlos. Abschließbar. Nach ein paar Minuten ist der Spiegel über dem Waschbecken beschlagen. Die Luft feucht und warm. Der Schaum türmt sich auf der Oberfläche. So sehe ich nicht, wie viel Wasser drin ist. Die Erinnerung ist noch da. Irgendwo tief in mir. Ich liebe es, in das Wasser zu gehen, wenn es einen Millimeter zu heiß ist. Wenn ich reinsteige und das Gefühl habe, das Bein sofort wieder rausziehen zu müssen. Dann zähle ich. Wenn es extrem ist, zähle ich laut. Bis die Hitze irgendwann erträglich wird. Dann ziehe ich das zweite Bein nach. Zähle wieder. Fast ganz langsam setze ich mich dann hin. Nicht ganz langsam, weil ich mich so ohne Klamotten
nicht so gerne angucke. Ziemlich langsam, weil es einfach so verdammt heiß ist und ich mich fast verbrühe. Vollgas mit angezogener Handbremse. Wenn ich dann endlich sitze, wird die Luft knapp. Aber jeder Atemzug wird länger. Und irgendwann bin ich Teil des flüssigen Schaumbergs. Dann lege ich meinen Kopf in den Nacken, bis auch die Ohren unter Wasser sind, und höre. Auch wenn es vorher ganz still war, unter Wasser hört man immer was. Ein Gurgeln und Klopfen und Rauschen. Und alles ganz dumpf. Meilen von mir entfernt. In einer anderen Dimension. Ich bin unerreichbar. Ich spüre dann, wie ich immer tiefer sinke, wie meine Gedanken langsamer werden. Die Stimmen in mir leiser. Ich werde leichter und gleichzeitig schwerer. Was ich dann fühle, ist nicht einfach Müdigkeit. Es ist eher so eine Lähmung, die ganz beruhigend in mir hochkriecht. Ich genieße das Gefühl so sehr. Das ist noch besser als der Moment kurz vorm Einschlafen, wenn es ganz langsam dunkler wird in einem. Wenn man sehr müde ist, geht einfach das Licht aus. Von jetzt auf gleich. Hell - dunkel. Wenn man langsam einschläft, wird das Licht gedimmt. Dann greift der Schlaf mit seinen Krakenarmen ins Denken. Dann vermischt sich alles. So, als würde man mit sehr viel Wasser malen. Dann läuft alles ineinander, die Grenzen tasten sich langsam vor. In alle Richtungen. Manchmal klemme ich mir die Kette, an der der Stöpsel befestigt ist, zwischen meine Zehen. Damit ich im letzten Moment, ehe der Schlaf das Sagen hat, den Stöpsel rausziehen kann. Ich weiß, dass man erfrieren kann, wenn man in der Wanne einschläft, das Wasser immer kälter wird und das Leben aus einem rauszieht. Oder ist das ein Ammenmärchen? Als ich mich endlich entschließen kann, aus dem Wasser zu steigen, das ohnehin schon ziemlich kalt ist, friere ich sofort. Ich wickele mich in den gestreiften Bademantel von meinem
Opa und lege mich damit ins Bett. Unter seiner Tür kroch noch bläuliches Licht in den Flur. Er hat
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