Angstspiel
halte den Ball in der Hand, sie steht schutzlos vor mir. Ich könnte sie jetzt abwerfen. Ich versuche danebenzuzielen.
»Ich habe Paul gestern noch im ›Fusion‹ gesehen. Mit ein paar Leuten. Vielleicht waren das ja auch ein paar Cousins und Cousinen.«
»Ja, vielleicht«, sagt Luise wie nach einem Streifschuss und geht steif raus.
So fühlt man sich also, wenn man anderen Angst einjagt. Nicht gut.
Ich bin auf beiden Seiten der Furcht nicht zu Hause.
Als ich mit dem Rad zur Schule fahre, sehe ich Luise an der Bushaltestelle sitzen. Sie hat das Handy gezückt, starrt auf das Display. Mich sieht sie nicht. Sie ist eine halbe Stunde vor mir gegangen. Der Bus kommt alle zehn Minuten. Wie viele SMS hat sie in der Zeit geschrieben?
Ich versuche gar nicht erst Julchen abzusagen. Sie würde es nicht dulden. Sie hat sich vorgenommen, mich wieder lachen zu machen. Wir haben bis drei Uhr Schule und fahren danach direkt in die Stadt. Zwischen ein paar Sandwiches und mehreren Latte tun wir sogar so, als wollten wir die Hausaufgaben erledigen. Natürlich kommen wir nicht weit. Lassen uns sogar von dem saudoofen Kellner ablenken, der für uns - oder vielmehr für Julchen - mit Pappbechern jongliert. Sie stupst mich an. »Siehste, es gibt genug bescheuerte Typen. Und sie sind fast alle harmlos.«
Fast. Das ist das Problem.
Wir verquatschen uns und müssen einen kleinen Spurt zum Kino einlegen. Philipp und Kai warten schon ungeduldig. Philipp hat allen Ernstes einen riesigen Eimer Popcorn gekauft. Ich habe mich immer gefragt, wer die nimmt - außer Eltern bei einem Kindergeburtstag. Wir
gehen in einen absoluten Actionthriller. Eigentlich nicht mein Ding. Aber es ist nicht wichtig. Ich schaffe es sogar kurz, alle Bilder, die mich belasten, aus meinem Kopf zu verbannen. Sie zu verjagen. Aber plötzlich rieche ich unseren Backofen. Ich denke an Mama und Luise, wie sie mit dem Mehl rumsauen, völlig hektisch den Mixer suchen, feststellen, dass die Backform total verdreckt ist, sich erst mal einen Kaffee machen - wie jedes Jahr am Tag vor Opas Geburtstag. Ich lasse das Gummi ein paar Mal fest gegen die Haut am Handgelenk zischen. Es hilft. Mama und Luise verschwinden. Der Film auf der Leinwand macht mich vom Hinsehen fast atemlos. Schnelle Bilder, schnelle Schnitte und natürlich schnelle Autos, die schnell zu Schrott gefahren werden. So laut, dass ich mein Telefon nicht höre, sondern es nur vibrieren spüre. Mir stockt der Atem. Warum habe ich es nicht ausgeschaltet? Mir wird heiß und kalt. Dann ein Blick aufs Display: Ich atme auf. Da steht eine Nummer. Eine Nummer, die ich nicht kenne. Bei Kaktus steht da immer nur »anonym«. Der Feigling.
»Ja?«
»Hallo, du geiles Luder. Wie wäre es mit’ner schnellen Nummer? Ich habe gerade Zeit.«
Ich drücke meinen Daumen zitternd auf den roten Telefonhörer. Das Gespräch ist vorbei. Das Zittern bleibt.
Da hat sich jemand verwählt. Da hat sich jemand verwählt. Da hat sich jemand verwählt. Da hat jemand nicht mich gewählt. Da hat jemand nicht richtig gewählt. Der wollte nicht meine Nummer. Wollte eine andere Nummer.
Ich hacke die Worte in mein Bewusstsein, muss mich an den Armlehnen festhalten, um nicht aufzuspringen. Ich befehle mir: löschen. Vergessen. Ignorieren.
»Alles gut?«
Julchens Hand liegt auf meinem Arm.
»Ja, ja. Falsch verbunden.«
Ich lege meine Hand auf ihre. Fühle den kalten Film in meiner Handfläche. Hoffentlich merkt sie das nicht.
Julchen wispert: »Warum hast du auch im Kino dein Telefon an? Mach es aus, ja?«
»Ja, ja«, flüstere ich zurück - stehe noch unter Schock und fummele umständlich daran herum. Da klingelt es wieder. Und diesmal hören es alle im Kino. Denn gerade genießen wir die einzige ruhige Szene des ganzen Schrottfilms. Was soll ich machen? Ich kann unmöglich nicht rangehen.
»Ja?«, flüstere ich.
»Geile Titten. Du hast Glück, ich habe heute Abend noch Zeit. Da kann ich dich so richtig rannehmen.«
Der Mann klingt brutaler als der erste Typ. Er hechelt auch nicht so. Ich bin angeekelt, fühle mich bedroht. Angewidert.
»Falsch verbunden«, sage ich knapp und versuche hart zu klingen.
Ich drücke den roten Hörer. Wieder und wieder. So lange, bis ich es schaffe, ihn zitternd ausdauernd genug auf der Taste zu halten, damit sich das Telefon abschaltet.
Die nächste Runde ist eingeläutet.
Ein paar Tage lang durfte ich in meiner Ecke sitzen. Mich erholen. Mir kurz vorstellen, ich könnte mich aus dem Ring
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