Angstspiel
stehlen. Ich bin ein bisschen zu Luft gekommen, die Stiche hatten aufgehört. Julchen hatte es echt geschafft. Für wie viele Stunden? Vierundzwanzig? Sechsunddreißig? Das zählt jetzt nicht mehr. Die Pause ist vorbei. Es geht wieder los. Habe ich wirklich geglaubt, mein Schatten hätte mich ziehen lassen? Natürlich steckt er dahinter. Alles andere zu glauben, wäre völlig naiv. Ich bin schon länger nicht mehr naiv. Gezwungenermaßen.
Der Rest des Abends vergeht wie ein Daumenkino. Ich bin nicht drin. Stehe davor. Ich spüre die ganze Zeit mein Telefon wie eine tickende Bombe in meiner Jackentasche. Springt jetzt gerade die Mailbox an? Hechelt gerade wieder ein Mann irgendeinen perversen Mist nach dem Piepton? Wie kommen diese Männer an meine Telefonnummer? Ist der Kaktus nicht alleine? Hat er die Nummer weitergegeben? Ich weiß genau, dass er das nicht selber war.
Plötzlich wird mir eiskalt.
Vielleicht ist er aber hier im Kino. Sitzt vielleicht ein, zwei Reihen hinter mir. Guckt sich amüsiert an, wie ich wieder in ein Loch aus Angst falle. Vielleicht kann er meine Angst sogar riechen. Als wäre ich ein verwundetes Tier.
Ich sehe schemenhaft ein paar Typen vor uns sitzen, stelle mir plötzlich vor, einer dreht sich zu mir um. Hat eine grässliche Grimasse. Wie in »Scream« oder so. In mir schreit eine Stimme zu laut. Ich höre mein Herz rasen, es pumpt in alle Richtungen, schlägt im Hals, in den Füßen, ganz tief in meinem Bauch. Gleichzeitig wird alles an mir fremd. Ich schaue auf meine Hände, die seltsam ruhig auf meinen Beinen liegen. Wie Handschuhe aus Fleisch. Ich fühle mich nicht mehr. Erreiche mich nicht mehr. Die Angst fährt Achterbahn mit mir. Lässt mich fallen, zittern, schleudert mich wieder hoch. Und die ganze Zeit sitze ich ganz ruhig da. Halte den Kopf gerade und oben. Ich funktioniere.
Wie durch einen Nebel erlebe ich den Rest des Abends. Irgendwann ist auch das letzte Auto kaputt, der letzte coole Spruch gesagt. Wie in Trance gehe ich mit raus. Ich höre mich reden. Höre erstaunt meiner Stimme zu. Kai hat mich angesprochen. Ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat. Was ich gesagt habe, habe ich schon im selben
Moment vergessen. Ich bin ein schlechtes Abbild von mir. Noch nicht mal von der, die ich sein möchte. In meiner Tasche schlummert die Bombe. Wie viele sabbernde Anrufe sind da drauf? Wie viele obszöne Aufforderungen? Wie viele gestöhnte, gestammelte Bitten und Befehle? Wie viele dicke, hornige, fiese Finger haben meine Nummer gewählt? Es ist nicht, dass mir schlecht ist. Ich fühle mich vergiftet.
Irgendwann gegen ein, zwei Uhr nachts halte ich es nicht mehr aus. Ich habe stundenlang das Telefon angesehen, wie es tot und stumm auf dem Tisch liegt. Ich war im Niemandsland zwischen Wachen und Schlafen. Zwei Mal hatte ich das Gefühl, dass Telefon bewegt sich. Wie ferngesteuert stehe ich mit steifen Beinen auf. Hacke die vier Zahlen ein. Ich halte die Luft an. Der Briefumschlag erscheint. Dahinter eine Eins. Wenige Sekunden später steht eine Vierunddreißig da. Vierunddreißig Textnachrichten. Angewidert öffne ich die erste. Ein Typ namens Bernd schreibt mir, was er mit mir alles machen möchte. Mein Magen stülpt sich um. Das tut nur noch weh. Es kommt nichts mehr. Alles schon draußen. Die zweite SMS ist von Mike. Er schreibt nur: kom ficken . Ich lese vierunddreißig perverse, eklige Nachrichten. Alles in mir ist taub. Als Nachricht Nummer fünfunddreißig erscheint, tue ich es automatisch. Ich gehe auf die Nummer, drück den grünen Hörer. Es klingelt nur zwei Mal. Dann meldet sich ein Mann.
»Du hast es aber eilig.« Er klingt noch nicht mal unnett.
»Was wollen Sie von mir?« Ich klinge wohl unnett.
»Machst du jetzt auf unberührte Jungfrau, oder was? Stehe ich nicht so drauf.«
Ich will nicht wissen, auf was er steht. Ich bin noch Jungfrau. Schon diese vielen Worte fassen mich an Stellen
an, die nur mir gehören. »Woher haben Sie meine Nummer? Warum schreiben Sie mir?«
»Pass mal auf, du Ziege. Wenn du keinen Bock auf’ne Nummer hast, dann schreib nicht so’n Scheiß. Dann pack deine Titten wieder ein.« Er klingt nun auch nicht mehr nett.
»Was soll ich nicht schreiben?« Ich schreie in den Hörer und hoffe, dass mein Opa nicht wach wird.
»Du bist doch Belinda, oder? Du bist heiß und rekelst dich feucht hier auf meinem Bildschirm.«
Belinda. Linda. Ein Foto.
»Wo?« Ich flüstere die Frage nur.
»Ich weiß ja nicht, wo du überall
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