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Angstspiel

Titel: Angstspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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würden sämtliche Türen in meinem Kopf mit einem lauten Knall zufliegen und die Gedanken würden verzweifelt an den Klinken rütteln. Es ist gar nicht so, dass ich Physik doof finde. Dafür müsste ich ja zumindest eine leise Ahnung haben, um was es geht. Die habe ich leider nicht. Als es an der Tür geklingelt hatte und meine Mutter »Linda, Besuch für dich« nach unten rief, war mir kurz sehr übel geworden.
    »Das ist er«, hatte in riesigen flackernden Buchstaben
in meinem Kopf gestanden. Als Merlin dann zur Tür reinkam, war ich echt erleichtert gewesen. Selbst Physik kann mich nicht mehr schocken. Alles ist relativ geworden in den letzten Wochen. Ganz geduldig führt Merlin mich durch das Thema.
    »Jetzt kümmern wir uns um Gal«, erklärt er.
    »Kenn ich nur als Seife. Gallseife. Ist super gegen ganz hartnäckige Flecken. Echt.«
    Er grinst mich an.
    »Ich glaube, Frauen sind doch nur für die Hausarbeit da. Ihr solltet einfach weiter am Fluss die Wäsche waschen, von mir aus mit Gallseife, und wir Männer erobern die Welt.«
    »Und werdet entweder vom Mammut gefressen oder bringt euch im Kampf um die schönste Frau gegenseitig um. Da sitze ich doch lieber am Fluss«, sage ich. Merlin bringt mich zum Schmunzeln. Und das beim Physiklernen!
    Der Gute erklärt mir wie einem kleinen Kind, dass mit Gal die Erdbeschleunigung gemessen wird. Wir rasen also gerade mit soundso viel Gal durchs All. Komische Vorstellung. In meinem Teil des Referats geht es auch noch um Erdanziehung. Ich möchte eigentlich nicht nur von der Erde angezogen werden, sondern am liebsten von ihr verschluckt werden. Es scheint so zu sein, dass die Erdanziehung davon abhängt, wie viel Masse gerade unter einem ist. Ich dachte immer, die sei überall gleich. Auch die Gezeiten, Ebbe und Flut und so, hängen von der Erdanziehung ab. Und von der Rotation der Erde und des Mondes. Für einen kurzen Moment bin ich fasziniert. Meine Gedanken fangen an zu schlendern. Von Flut und Ebbe ist es nicht weit bis zum Strand. Und da sehe ich mich wieder am Strand stehen. Sehe meine nackte Haut, meinen devoten Blick. Fühle mich so schmutzig. Ich habe Mühe, mich auf die einfachsten Dinge zu konzentrieren. Merlin merkt
nichts. Er redet weiter. Macht seinen Plan, wer welchen Teil des Referats hält, was wir für Folien dazu zeigen, achtet darauf, dass ich den Part bekomme, bei dem noch nicht mal schwierige Wörter, geschweige denn schwierige Zusammenhänge vorkommen. Er ist echt nett. Richtig lieb. Und ein bisschen beneide ich ihn. Er geht jetzt wieder zurück in sein langweiliges Leben, wo Ebbe und Flut sich nur durch ein paar Zentimeter voneinander unterscheiden. Mir wird gerade schon wieder der Boden unter den Füßen weggespült. Wenn ich heute Mittag irgendwas gegessen hätte, würde ich jetzt kotzen. Erst jetzt merke ich, wie nah wir zusammensitzen. Ich lehne mich sofort zurück. Dabei wische ich aus Versehen mein Buch vom Tisch. Wir bücken uns gleichzeitig und ich spüre, wie Merlin mir in den Ausschnitt glotzt.
    Die meisten sexuellen Übergriffe finden nicht von Fremden statt, sondern von Tätern aus dem vertrauten Umfeld.
    Das habe ich kürzlich gelesen. Das Zimmer wird plötzlich zu eng. Ich beende das Treffen sofort. Bin ich der Lösung nah oder von Misstrauen zerfressen?
     
    Ich sehe Julchen beim Lesen zu. Sie hat Ali mitgebracht, der auf meinen Füßen liegt. Ich streichle ihn und es tut gut. Als sie reinkam, habe ich ihr sofort die Ausdrucke gegeben, wir haben uns nicht lange mit Geplänkel aufgehalten. Ich schaue zu, wie ihre Augen die Zeilen abtasten. Obwohl für mich die Blätter auf dem Kopf liegen, weiß ich sofort, wo sie gerade ist. Was sie gerade liest. Sie erfährt so viel über meine Träume, über meine Ängste. Sie stöbert in meinem Innersten. Und wahrscheinlich spürt sie auch, wie der Ton weicher wird. Wie die Wörter sich näherkommen. Vielleicht registriert sie auch die Uhrzeiten. Julchen weiß jetzt, dass ich nachts hier gesessen habe und mit einem wildfremden Jungen gechattet habe. Dass
ich wie eine Zwiebel immer Schichten abgelegt habe. Schutzschichten. Wie verletzlich ich mich gemacht habe. Meine fast geheimen Wünsche habe ich geschildert. Und Gefühle, die man nur nachts im Dunkeln formulieren kann. Wie klein ich mich oft fühle. Wie vorsichtig ich mich oft durchs Leben taste. Wie tief in mir der Dorn des Zweifels steckt. Dass ich nicht genüge. Dass ich das Leben nicht begreife, nicht zugreife. Wie oft ich danebenstehe.

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