Angstspiel
In Wirklichkeit heißt das, dass sie behinderten Kindern zeigt, wie man mit Kleber, Stoff oder auch Farbe unnützen Krams
herstellen kann. In einem dicken Zoff habe ich ihr mal gesagt, dass ihr »Basteln für Bescheuerte« der letzte Mist sei. Am nächsten Tag hat sie mich mitgezerrt in ihre Schule. Am Anfang fand ich es fast unerträglich, wie nahe einem die Kids kommen. Die kannten echt keine Grenze. Die wollten mich anfassen, ein Mädchen hat mich sogar auf die Wange geküsst. Ein älterer Junge wollte unbedingt meine Hand halten. Ich hätte am liebsten um mich gehauen. Meine Mutter hatte damals grinsend danebengestanden. Auch als die Fragen kamen. Ob ich jetzt auch auf ihre Schule gehen würde. Ob ich einen Freund habe. Ob ich Süßigkeiten in meiner Tasche hätte.
Ich habe damals richtig gespürt, wie ich gekämpft habe. Um Haltung und Distanz. Ich war permanent im Rückwärtsgang. Angespannt und auch irgendwie peinlich berührt. Ich wäre am liebsten sofort wieder gegangen. Das konnte ich nicht. Dann hätte ich gekniffen - vor ein paar halbwüchsigen Behinderten.
Ich glaube, schon nach der ersten großen Pause fing meine Starrheit zu bröckeln an. Irgendwie waren die Kiddies auch witzig. Sie waren so echt. In allem. Ganz konzentriert - egal ob beim Ausschneiden von Sternen, beim Weben kleiner Teppiche, beim Essen der Pausenbrote, beim Streiten um einen Kasten Wasserfarbe. Ich hatte den Eindruck, egal, was sie taten, sie taten es mit aller Kraft, ohne nach vorne oder hinten zu gucken. Ehrlich gesagt: Ich fand das beneidenswert. Als gäbe es keine Erinnerung, keine Zukunft. Nur das Jetzt. Seitdem habe ich mir das Wort »Bescheuerte« verkniffen.
Ich gehe hoch zu meiner Mutter. Sie sitzt da bis zu den Schultern in Pappmaschee.
»Süße, kannst du mal eben unten nachgucken. Ich glaube, die Kartoffeln sind jetzt fertig. Kannst du die abstellen?«
Ich ahne Böses. Wahrscheinlich sind die Kartoffeln angebrannt.
Dann muss ich jetzt den Topf schrubben, prüfen, ob von den Kartoffeln noch was zu retten ist, was dann in die Pfanne wandern müsste. Ich habe Glück. Meine Mutter hat vergessen, den Herd überhaupt anzustellen. Ich hole das nach und gehe wieder hoch. Meine Ma seift gerade einen Luftballon mit dem Pappmatsch ein.
»Die Kartoffeln hatten sich jetzt so weit an das Wasser gewöhnt, dass wir sie jetzt ruhig darin erhitzen können, ohne dass sie sich zu sehr erschrecken.«
Sie guckt mich fragend an, versteht dann offenbar und sieht zufrieden aus. »Dann habe ich ja hier noch etwas Zeit«, freut sie sich.
Ich frage mich, warum sie Luise nicht gerufen hat. Unter ihrer Zimmertür sehe ich einen Lichtschein. Auf mein Klopfen reagiert sie nicht. Ganz vorsichtig öffne ich die Tür einen Spaltbreit. Luise liegt auf dem Bett, Kopfhörer auf den Ohren, ein paar zerknüllte Taschentücher auf dem Kissen. Sie hat das Gesicht zur Wand gedreht. An ihrem zitternden Rücken und den angespannten Schultern sehe ich, dass es ihr nicht gut geht. Ich könnte jetzt ganz leise wieder die Tür schließen. Von außen. So tun, als hätte ich nicht mitbekommen, dass es ihr schlecht geht. Aber das schaffe ich nicht. Ich knie mich vor ihr Bett, lege leicht meine Hand auf ihren Oberarm. Sie schreckt zusammen, reißt den Kopf zu mir rum. Ihr Blick sagt, dass sie sich jemand anderen erhofft hat. Ihre Augen füllen sich wieder und sie dreht den Kopf wieder weg. Ich bleibe einfach da sitzen. Ich kann hören, dass sie irgendeine sehr traurige CD hört. Viel Klavier. Ein paar Mal holt sie ganz tief Luft. Jedes Mal hoffe ich, dass sie endlich was sagt. Natürlich könnte ich fragen. Aber ich habe Angst, dass sie mich mit einer Lüge abspeist. So wie ich sie gestern Morgen. Dass sie mir nicht die Wahrheit sagen will, weil ich nicht mehr die bin, der sie alles sagen kann.
Meine Füße schlafen langsam ein. Ich bewege mich trotzdem nicht. Damit würde ich den Moment ausknipsen. Luise würde sofort denken, dass ich gehen will. Sie ist gerade so verletzlich wie ein Schmetterling. Auch so schreckhaft. Sie ist oft so laut, so bestimmt und bestimmend. Sie ist oft so stark. Doch ich kenne auch ihre andere Seite. Wenn ihre Augenlider ganz leicht flattern. Sie die Hände ganz tief in die Taschen steckt, die Schultern hochzieht. Genau in dem Moment, als meine Mutter von unten ruft, »Mädels, Essen ist fertig«, sagt sie leise: »Ich glaube, es ist aus.«
Ich schiebe ihren Kopfhörer nach hinten.
»Warum glaubst du das?«
»Das weißt du doch genau.
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