Angstspiel
unterentwickelt ist.
»Die Hantel ist direkt auf das Handy gefallen und hat es zertrümmert?«
Luise weiß, dass ich lüge. Ich weiß, dass sie es weiß, und es ist mir egal. Ich nicke nur.
Sie nickt auch. »Hoffentlich ist die SIM-Karte noch heile. Dann kannst du wenigstens deine Nummer behalten.« Sie steht langsam auf, geht zu Tür und sieht sich noch mal um. »Verarsch mich nicht, Linda.« Ihre Stimme klingt enttäuscht. Dann ist sie weg.
Scheiße. Die SIM-Karte. Wenn die jetzt noch funktioniert, hat sich mein Anfall gar nicht gelohnt. Ich finde sie in dem Gehäuse. Der Chip leuchtet golden, die Karte ist natürlich unversehrt. Ich schneide sie mit einer Nagelschere durch und quäle mich Richtung Küche.
Es ist, als würde ich aus meinem persönlichen Verlies, meiner eigenen kleinen Folterkammer aufsteigen. Die Bühne betreten. Das Publikum sind in dem Fall meine
Mutter und Luise. Ich kenne meinen Text, versuche ihn runterzuspulen. Ich stelle auf Automatik. Nehme mir einen Tee, blättere in der Zeitung. Meine Mutter spricht mich an, irgendwas Belangloses. Ich fixiere meinen Blick auf ihren Mund, konzentriere mich auf jedes Wort. Es ist so anstrengend, jetzt normal zu sein. Ich bin erleichtert, als ich gehen darf. Ja, jetzt muss ich raus. Auf die ganz große Bühne, wo ich von allen Seiten sichtbar bin. Egal. In unserer Küche war mir zu viel Nähe.
Deswegen kann ich auch den Bus heute nicht nehmen. Obwohl es regnet. Ich kriege Atemnot, wenn ich daran denke, mit fremden Menschen eingeschlossen zu sein. Das kann ich nicht. Es fällt mir sonst schon schwer. Heute geht es nicht. Ich lasse mir Zeit, fühle mich unendlich müde und achte darauf, angemessen zu spät zu kommen. So spät, dass ich keine Gespräche mehr führen muss, so früh, dass ich nicht in den Unterricht platze und alle Augen auf mich ziehe. Ich schaffe es gerade noch, vor Herrn Lück in den Klassenraum zu schlüpfen.
In der ersten großen Pause gehe ich zum Büdchen gegenüber. Ich stelle mich geduldig an. Warte, bis ungefähr fünf Fünftklässler sich ihre Mischungen aus Lakritz, Weingummi und sauren Zungen zusammengestellt haben. Als ich dran bin, weiß ich gar nicht, was ich nehmen soll. Ich hatte mich nur angestellt, um nicht mit jemandem reden zu müssen. Ich greife wahllos zu, schnappe mir zwei Schokomüsliriegel und drei Packungen Kaugummi. Die zweite Pause verbringe ich auf dem Klo. Ich schiebe stumpf die Riegel in mich rein, falte Papierflieger aus Klopapier, höre zu, wie nebenan jemand kackt. Im Spiegel gucke ich in zwei blasse Augen. Meine Haut, meine Augenringe, meine Lippen, meine Augenfarbe. Alles wirkt grau. Hellgrau, mattgrau, dunkelgrau. In mir ist das Licht aus.
Warum können Luise und ich eigentlich keine eineiigen Zwillinge sein? Dann würde ich mich nicht so alleine fühlen. Oder wäre ich noch einsamer, weil nur die Hülle identisch wäre?
In der sechsten Stunde halte ich die selbst gewählte Wortlosigkeit nicht mehr aus. Es muss raus, aber ich will es nicht sagen. Ehe ich es mir anders überlegen kann, schmiere ich es auf einen Zettel: Guck auf www.2hot.de . Such Belinda. Hilf mir.
Ich schiebe den Wisch schnell zu Julchen rüber. Obwohl sie den Kopf gesenkt hält, ahne ich, wie sie die Stirn kräuselt. Ich bin so froh, dass sie mich jetzt nicht ansieht.
Ich habe es vergessen. Ich bin nach der Schule noch schnell mit Julchen nach Hause und habe mir Ali ausgeliehen. Ich brauchte einfach einen Waldspaziergang. Und zwei Hundeohren, die sich meine Sorgen anhören. Wenn er mich mit seinen Frolic-Augen ansieht, habe ich wirklich das Gefühl, er würde direkt in mein Herz gucken und alles verstehen. Manchmal, wenn ich länger nichts gesagt habe, schleckt er an meiner Hand. Am besten ist es aber, wenn ich mich vor ihn auf den Boden setze. Dann legt er seine Schnauze auf meine Schulter. Das ist so gut. Und mir ist es scheißegal, wenn hinterher alles vollgesabbert ist. Als ich gegen halb vier nach Hause komme, sitzen sie schon da. Mein Opa, zwei alte Arbeitskollegen von ihm, der Nachbar aus dem Kleingartenverein, Tante Mechthild, die Schwester von meiner Oma, natürlich meine Eltern und Luise, die wohl sogar eher nach Hause gekommen ist. Ich stehe im Türrahmen wie ein Fremdkörper.
»Linda, Kind, da bist du ja«, freut sich mein Opa.
Natürlich ist er nicht böse, dass ich zu spät bin. Er freut sich wirklich, mich zu sehen. Dass ich kein Geschenk habe, nimmt er lächelnd zur Kenntnis.
Ich stammele etwas von:
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