Angstspiel
plötzlich Merlin auf mich zu. Was will der von mir? Ich kriege Panik und biege schnell ab in die Mädchentoilette.
Der Unterricht wird zur Qual. Fünfundvierzig Minuten Mathe können schon echt quälend lang sein. Fünfundvierzig
Minuten Mathe, wenn man wie ein unerwünschtes Geschwür behandelt wird, sind die Hölle. Als ich mich bei einer Frage als Einzige melde, sagt der Lück vorne tatsächlich: »Offenbar ist das allen noch unklar.«
Allen.
Ich zähle hier nicht. Ich bin ein Nichts.
Ich schnipse mit den Fingern. Das mache ich sonst nie. Natürlich weiß ich die Antwort nicht. Aber ich will jetzt verdammt noch mal was sagen. Ich will, dass mich zumindest die Lehrer wahrnehmen.
»Mir ist das klar«, sage ich irgendwann.
Der Lück guckt mich spöttisch nachsichtig an.
»Ja, sicher, Linda. Natürlich. Aber eine alleine ist ein bisschen wenig, oder?«
Ich bin zu wenig. Besser als nichts. Schlechter als eins. Ich bin größer gleich null, kleiner gleich eins.
Ich könnte kotzen.
Wenn ich schon was gegessen hätte.
Ich halte fünf Stunden aus. Fünf Stunden, in denen ich fast pausenlos das Gummiband gegen das Handgelenk schnacken lasse. Fünf Stunden, in denen ich immer wieder Ich halte durch in das Heft vor mir schreibe. Vier Seiten habe ich hinterher voll. Meine Schrift sieht zittrig aus. In der sechsten und siebten haben wir Sport. Als ich in die Umkleide komme, gehen alle anderen raus. Wir haben zwei Räume nebeneinander.
In dem einen ziehen sich jetzt ungefähr vierzig Mädels um.
In dem anderen stehe ich.
Ich lasse die Jacke an, gehe direkt wieder.
Auf dem Parkplatz treffe ich Philipp, der gerade in sein Auto steigen will.
»Was machst du denn hier?«
»Ich habe gerade die Entschuldigung für Julchen gebracht.«
»Ist sie länger krank?«
»Morgen geht es ihr bestimmt schon besser.«
Er lehnt sich an sein Auto. »Sie hat mir erzählt, dass du ein bisschen Ärger in der Schule hast.«
»Kann man so sagen.«
»Ich habe ihr gesagt, dass sie jetzt zu dir halten muss. Du hast ja sonst keinen.«
Offenbar will sie also nicht zu mir halten. Offenbar habe ich jetzt wirklich keinen mehr.
»Passt schon.«
Ich drehe mich schnell weg. Dass Philipp mich jetzt heulen sieht, muss ja nicht sein.
11
I ch habe das noch nie gemacht. Aber ich war auch nie in so einer Situation.
Normalerweise nehme ich noch nicht mal eine Kopfschmerztablette, höchstens mal ein paar von diesen homöopathischen Kügelchen. Selbst beim Zahnarzt versuche ich ohne Betäubung durchzukommen. Ich hasse es, wenn der halbe Kopf und das halbe Gesicht taub sind.
Heute Nachmittag nehme ich eine Schlaftablette, klaue sie mir heimlich aus dem Badezimmerschrank von meinem Dad.
Ich will schlafen. An nichts denken. Abrudern.
Nach einer halben Stunde liege ich immer noch mit Herzrasen unter meiner Decke. Ich fühle mich nicht die Spur müde. Jetzt ist es auch egal. Ich werfe noch eine ein und einen Blick auf den Beipackzettel. Tageshöchstdosis vier Tabletten. Da dürfte ich ja sogar noch zwei.
Irgendwann ist der Wirkstoff aber wohl doch in meinen Blutkreislauf gekommen und hat die Lichter ausgemacht.
Ich wache schweißgebadet auf. Bin ein Stein. Alles an mir ist hart. Kalt. Ein feuchter Film überzieht mich. Das Kopfkissen ist klatschnass. Meine Haare kleben am Kopf. Langsam kriechen die Erinnerungen wie Ameisen in meinen Kopf. Langsam, aber stetig. Es werden immer mehr. Sie
ziehen auch in meinen Körper, nehmen von meinen Eingeweiden Besitz. Überall spritzen sie ihr Gift hin.
Sosehr ich diese Momente zwischen Wachsein und Schlafen liebe, wenn langsam die Träume sich über alles legen, wenn alles schwer und gleichzeitig leicht wird, so sehr hasse ich jetzt diesen Moment zwischen Baldrianschlaf und Horroraufwachen. Es ist klebrig heiß. Die Welt nimmt wieder Konturen an. Die Gedanken bekommen scharfe Kanten. Wenn ich nicht weiß, ob ich vor meinen Erinnerungen oder meiner Zukunft mehr Angst haben soll.
Mein internes Alarmsystem funktioniert noch nicht. Das Programm ist noch nicht hochgefahren und so kann sich alles ungefiltert vor mein inneres Auge schieben. Ich sehe wieder das Herz an meiner Fensterscheibe, sehe mein Blut. Schnitt. Ich sehe das entstellte Foto von mir im Netz. Schnitt. Ich sehe mich heulend durch den schmutzigen Fahrradkeller kriechen. Rotz läuft mir aus der Nase. Schnitt. Ich sehe mich mit Ali durch den Wald spazieren, sehe sogar vor mir, wie er langsam an dem Gift krepiert. Obwohl ich das nicht gesehen
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